Die Ausgelieferten
Auslieferung baltischer Soldaten an die Sowjetunion zu Beginn des Jahres 1946 schrieb. Über das, womit wir in Schweden ein halbes Jahrhundert unter dem Begriff »Die Auslieferung der Balten« gelebt haben. Für den, der dieses Buch in den Septembertagen 1968 las, wurde es nicht leichter. Die Analyse einer politischen Krise (1945), geprägt von der Entstehungszeit des Romans (1965–1968), der Zeit der Debatten um den Vietnamkrieg, in einer dritten Situation zu lesen: der düsteren Stimmung im Spätsommer und Herbst 1968, nachdem die Sowjetunion den Prager Frühling zerschlagen hatte.
Das färbte ab, die Schlussfolgerungen aus dem Buch gerieten recht verschieden. Dabei ist es auch geblieben. Später schuf die Wirklichkeit neue Deutungen dieses schwedischen und europäischen Traumas, die Wirklichkeit in Gestalt des Falls der Berliner Mauer, der Befreiung der baltischen Staaten von der sowjetischen Besatzung bis hin zu den ethnischen Gegensätzen zwischen Letten und Russen oder der Auswirkung von Wirtschaftskrisen auf die Geschichtsschreibung der jungen Staaten. Die Auslieferung der Balten blieb weiterhin virulent, als Anschauungsbeispiel oder als existentielles politisches Drama.
Der Untersucher, wie er im Buch genannt wird, also ich selbst, Per Olov Enquist, hat diese Geschichte nie recht verlassen können. Der Text ist jedoch hier der gleiche wie damals. Die Ausgelieferten werden heute im Jahr 2011 genauso veröffentlicht, wie sie 1968 geschrieben wurden. Der Text ist mit dem ursprünglichen exakt identisch. Ich habe so gut wie nichts verändert, ganz einfach weil ich darin einen Wert sehe und aufrichtig glaube, dass das Bild, das ich damals von der Auslieferung der Balten vermittelte, das Bild ist, für das ich auch heute noch einstehen kann, und dass die darin enthaltenen Fakten richtig sind.
Den schwedischen Teil der Auslieferung habe ich im Verlauf der Jahre verfolgt und in verschiedenen Nachworten zu den Neuauflagen der schwedischen Originalausgabe kommentiert. 1981 wurde beispielsweise die Geheimhaltung des Archivs des Außenministeriums aufgehoben. Ich habe dieses Material durchgesehen, und nur in einem Punkt hat dieses nunmehr freigegebene Material mein Bild korrigiert. Darin ging es um die politische Verantwortung: Der schwedische Ministerpräsident Per Albin Hansson war in weit größerem Umfang, als ich zunächst geglaubt hatte, treibende Kraft und für die Entscheidung verantwortlich. Er setzte nicht nur die positive Frage einer Auslieferung an die Sowjetunion durch – auf deren vage Anfrage hin (!) –, er diktierte auch persönlich den Passus, der der Anfrage in weit größerem Umfang entgegenkam, als die Gegenseite erwartet hatte. Ohne diesen Passus, der sich auf einem Zettel von seiner Hand findet, hätte kein einziger der 146 Balten ausgeliefert werden müssen. Bis dahin war alles möglich gewesen.
Danach zogen sich die bedrohlichen politischen Wolken immer mehr zusammen. Schließlich war alles schwarz.
Jedoch keine neuen entscheidenden Fakten. Die Deutungen von Fakten werden hingegen immer variieren. Man muss selbst denken.
Während der 40 Jahre, die inzwischen vergangen sind, ist die Debatte ununterbrochen weitergegangen. Neue Möglichkeiten haben sich aufgetan, in Schweden und in der früheren Sowjetunion. Menschen und Staaten wurden frei, Archive geöffnet. Nach dem Fall der Berliner Mauer habe ich mehrmals Gelegenheit gehabt, erneut mit den Ausgelieferten zu sprechen, habe neue Expeditionen in diese Länder unternommen, die jetzt nicht mehr exotisch sind, sondern unsere normalen Nachbarstaaten. Dieses schwedische Trauma um eine Auslieferung scheint nicht zu verschwinden. Das Trauma hat sich 1945 in uns festgebrannt. Das mag etwas mit unserem Selbstbild zu tun haben: Um die Mitte der vierziger Jahre war dies das Bild von einem kleinen humanistischen Land, das Flüchtlinge beherbergte und Graf Bernadotte an der Spitze weißer Busse entsandte, um Häftlinge aus den Konzentrationslagern zu retten. Und dann mit einem Mal diese verfluchte Auslieferung, die das Selbstbild zerstörte.
Es war fast nicht auszuhalten.
Der Untersucher war in jenen Jahren ein sehr junger Autor. Man gab ihm sofort zu verstehen, dass er sich dieses Projekts nicht annehmen solle. Er sei zu jung und zu naiv. Es müsse aber auch möglich sein, wie er betonte, die Mechanismen dieser politischen Krise zu untersuchen. Eine Untersuchung dessen, was hinter der Mythenbildung geschehen war. Zu 90 Prozent geht es ja bei den
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