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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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einen Zustand, in dem der Mensch für sein Tun verantwortlich war und schließlich gelernt hatte, die ihn umgebende Wirklichkeit zu lenken, gelernt hatte, den Mechanismus des Lebens zu begreifen. Es gab aber noch eine andere Ebene, eine verschwommenere und rätselhaftere, die durch das Gesicht eines leidenden Menschen geprägt zu sein schien: eines Menschen ohne Hintergrund und Geschichte, der von der Wirklichkeit besiegt worden war. Den Ausdruck »der leidende Mensch« hatte er immer gehasst, weil er das Sentimentale in sich selbst hasste, aber manchmal hatte er den leidenden Menschen ganz nackt, ausgeliefert, als ein Opfer vor sich zu sehen geglaubt, und das hatte ihn so erschüttert, wie er es nie erwartet hätte. An was ausgeliefert? An seine Apathie? An seine Nachgiebigkeit? An seine Abneigung gegen die Einsicht, dass er dennoch frei war und die Möglichkeit besaß, die ihn lenkenden Kräfte zu erkennen und zu beherrschen? Die Abstraktionen fielen wie Schleier über ihn, wie lange noch sollten die menschlichen Laute in ihn eindringen?
    Diese Auslieferung. Weit weg, irgendwo dort hinten, im Zentrum der Geschichte, weit, weit zurück gab es einen Anfangspunkt, einen Drehpunkt, einen Angelpunkt, einen Augenblick, in dem jemand eine Wahl getroffen hatte. Damit war die Lawine ins Rollen gekommen. Aber wo? In einem kurzen Augenblick glaubte er Außenminister Günther von seinen Papieren aufblicken zu sehen, zu sehen, wie dieser ums Wort bat und sagte: »Da ist noch etwas.« Hatte er sich 1945 nicht so ausgedrückt? Da ist noch etwas . Hatte es dort angefangen, oder schon früher? Nein, er hatte das falsche Bild gebraucht: politische Ereignisse sind keine Lawinen. Die lassen sich steuern, beeinflussen. Aber worauf hatte er eigentlich Jagd gemacht?
    Er hatte das Schicksal der 146 Ausgelieferten untersuchen wollen, aber gleich daneben gab es ein anderes Problem, ein größeres, komplizierteres von gleicher Brisanz, obwohl nie jemand darüber sprach: eine Art Trauma, das zu definieren er immer sorgfältig vermieden hatte, weil es die heutige Lage betraf und weil man es nicht auf Abstand halten oder durch eine Lupe betrachten konnte. »Sie sollten auch eine Frage behandeln, die bedeutend komplizierter ist als die Frage nach unserer Verantwortung für die Deportation der 146 Männer: die Frage unserer kulturellen Zusammengehörigkeit mit den Ostseestaaten, an deren Problemen wir Anteil nehmen sollten, statt ihnen mit politischen Vereinfachungen den Rücken zu kehren. Die Frage, warum wir uns von einem wesentlichen Teil unserer Umwelt abgekapselt haben.« Er hatte immer zu begreifen versucht, welche Voraussetzungen der langen schwedischen Fixierung auf die Auslieferung der Balten zugrunde gelegen hatten, war dies eine Antwort? War diese Auslieferung ein Teil eines schwedischen oder westeuropäischen Traumas, das plötzlich sichtbar wurde, dessen Voraussetzungen aber noch unerforscht waren, ein Teil einer Schuld, äußerte sich in dieser Auslieferung die heimliche Krankheit des schizophrenen Europa?
    Es gab so viele Antworten. Ob nun ein inneres Trauma oder ein äußeres: er hatte plötzlich gesehen und verstanden, wie die Schweden die in Schweden vorhandene baltische Kulturwelt verleugnet, vernachlässigt oder bekämpft hatten, und er hatte zugleich das enorme und pathetische Kontaktbedürfnis der Menschen hier in Lettland erlebt. Schuld nach innen und nach außen. Das alles waren Teile eines verschwommenen und schuldbeladenen Traumas, das vorsichtshalber nie diskutiert worden war.
    Hinter sich hörte er den Gesang, die Rufe, das Schluchzen: der kurze Augenblick des Kontakts zwischen zwei Welten wurde jetzt aufgehoben, der Traum von der Gemeinsamkeit schwand. »Sie sollten auch versuchen, eine Diskussion darüber in Gang zu setzen, ob …« Die Briefe hatten ihn erreicht und erreichten ihn auch weiterhin. Sie waren Signale, entfernte Signale, ein Ticken in der Dunkelheit, hilflose Bitten, hoffnungsvolle Vorschläge. Die Gesichter der Menschen: auch Politiker hatten Gesichter. Er erinnerte sich an das kleine Billett Östen Undéns, der ihm in seiner kleinen, genauen, aber müden Handschrift geschrieben hatte: »Ich war bei Ihrem gestrigen Besuch sehr müde und habe mehrere Sätze unglücklich formuliert. Was ich habe sagen wollen, ist dies: noch einmal vor die gleiche Lage gestellt, würde ich nicht anders handeln als damals.« Später hatte er auch telefonisch mit Undén über die Konsequenzen der Auslieferung gesprochen,

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