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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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dass vieles an seiner eigenen Trägheit lag, an seiner Unfähigkeit, an mangelnder Intelligenz, fehlender Übersicht, Unerfahrenheit, an seiner mangelnden Ausdauer. Es sind die Faulen und Unfähigen, die die Welt als Chaos erleben, sagte er zu sich selbst. Ständig versicherte er sich selbst, dass es möglich war, dieses Puzzle-Spiel zu vollenden, vielleicht nicht in einem Menschenalter, aber von vielen Menschen, von denen jeder einen Ausschnitt bearbeitete. Das würde schließlich das Grundmuster sichtbar machen und eine Plattform schaffen, auf der irgend jemand sicher würde stehen können.
    Das versicherte er sich täglich aufs neue, aber nachts konnte es dennoch geschehen, dass er im Halbdunkel des Schlafzimmers lag und zum Fenster schaute, wo die Schatten tanzten und das Licht kam und ging. Ihm kam dann auch die Erkenntnis, dass er eigentlich gar nicht am Ergebnis interessiert war, sondern nur an der Arbeit, am Weg zur Erkenntnis, dem Arbeitsmodell. Ja, vielleicht doch: er veränderte sich allmählich, es gab da noch etwas anderes: nicht nur ein Resultat, nicht nur ein Arbeitsmodell, sondern auch eine Nähe. Er vermochte es nie, dieses Wort in begriffliche Termini zu übersetzen, deshalb gebrauchte er es so, da es ein ausgezeichneter Schutz für sein Gefühl und seine Einsichten war, die noch zu empfindlich zu sein schienen.
    Eine Zeitlang las er einige jener großartigen und sachlichen zeitgenössischen Romane, die unter dem Namen »Öffentliche Untersuchungen staatlicher Kommissionen« bekannt sind; besonders zu einem dieser Romane kehrte er immer wieder gern zurück. Es handelte sich um eine Denkschrift über die Behandlung von Flüchtlingen während der Kriegsjahre. Die Kommission war im Januar 1945 eingesetzt worden und hatte das Ergebnis 1946 vorgelegt, einen Wälzer von genau fünfhundert Seiten.
    In diesem Bericht war weder von zivilen noch von Militärbalten etwas zu lesen, diese Frage wurde nicht einmal gestreift. Ein Stück des Puzzle-Spiels war hier aber doch zu finden, oder eher: ein möglicher Hintergrund.
    Die Untersuchung befasste sich mit der Behandlung der Flüchtlinge durch schwedische Behörden während des Kriegs. Dieser Band war nur mit den Schicksalen der falsch Behandelten gefüllt, er bot eine Übersicht über die Ungerechtigkeit, vermittelte aber kein Bild der Großzügigkeit, die man oft genug hatte walten lassen. Hier fanden sich nur die Geschichten der ungerecht oder ungesetzlich Behandelten, der willkürlich Ab- oder Ausgewiesenen.
    Streckenweise war dies eine halluzinatorische Lektüre, da er ja wusste, dass dies alles sich in einem luftleeren Raum abgespielt hatte, in völligem Schweigen, ohne Meinungsstürme oder Proteste. Da waren zunächst die Juden.
    Im Jahr 1937 waren Kenner des Ausländergesetzes zu dem Schluss gekommen, dass man zu den politischen Flüchtlingen nicht auch jene Personen zählen könne, die »auf Grund ihrer Rasse oder aus anderen Gründen in ihren Erwerbsmöglichkeiten beschränkt sind oder sich in ihren Heimatländern unwohl fühlen«. Diese Feststellung wurde zwei Jahre nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze getroffen, deren Bedeutung allen klar war. 1938 wurden die Einreisebestimmungen weiter verschärft. Deutsche Juden hatten seit dem 5. Oktober 1938 ein eingestempeltes rotes »J« in ihren Reisepässen. Am 27. Oktober 1938 teilte das schwedische Außenministerium in einem Rundschreiben mit, dass Personen mit J-Pässen grundsätzlich nicht mehr einreisen dürften, »es sei denn, die zuständigen schwedischen Behörden würden eine Einreise solcher Personen nach Prüfung der Umstände für angezeigt halten«. In dem Rundschreiben hieß es weiter: »In Zweifelsfällen dürfen ohne Ermächtigung durch das Außenministerium keine Einreisedokumente ausgestellt werden.« Im Herbst 1941 wurden die Beschränkungen etwas gelockert, was kein Risiko mehr bedeutete, da die Juden in Deutschland nicht mehr ausreisen durften. Die Untersuchungskommission konnte nur bedauernd feststellen, »dass der Umschwung in der schwedischen Flüchtlingspolitik leider zu spät gekommen ist«.
    Aber auch in jenem Herbst waren die Zahlen eigenartig sprechend. In einem Herbstmonat des Jahres 1941 wurden hundertsiebzig Anträge auf Einreisevisa für Juden gestellt, von denen zweiundfünfzig genehmigt wurden. Die ablehnenden Bescheide entsprachen den gesetzlichen Bestimmungen.
    Erst die Betrachtung der Einzelfälle verschafft ein deutlicheres und informatives Bild.
    Ein

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