Die Ausgelieferten
erlebt, und wollten in Stockholm keine neue entstehen sehen.
Es gab auch andere Gründe: aber dieser war der wichtigste.
Man widmete dem Problem fast die gesamte Zeit der Staatsratssitzung. Alle schienen sich einig zu sein, »was die Standhaftigkeit in der Balten-Frage« betraf. Sollte eine russische Anfrage wegen der zivilen Balten kommen, würde man sie abschlägig bescheiden. Die Flüchtlinge, die sich in Schweden befanden, hatten ein Recht zu bleiben.
Die Diskussion über diese Frage nahm fast zwei Stunden in Anspruch.
Zur Beschreibung dieser Diskussion gehört auch die Wiedergabe eines vagen Gefühls von Festigkeit, Toleranz, Entschlossenheit und Großzügigkeit; von den Interviewten will aber keiner zugeben, dass es so gewesen ist, noch weniger ist von ihnen eine Beschreibung des Geschehens zu erwarten. Das Gefühl wird sich in dem Maß verfestigt haben, in dem die Umrisse des Problems sich deutlicher abzeichneten und die feste Haltung Schwedens klarer erkennbar wurde. Es ist allerdings auch möglich, dass es dieses Gefühl nie gegeben hat. Man könnte es eventuell als eine »moralische Sattheit« beschreiben, aber alle Versuche, es zu definieren oder gar seine Existenz nachzuweisen, müssen äußerst spekulativ bleiben.
Nach dieser eingehenden Diskussion hielt der Außenminister über eine teils verwirrt, teils selbstverständlich erscheinende Angelegenheit Vortrag: die Frage der internierten ausländischen Militärs. Die Russen hätten um eine Auslieferung gebeten, und die frühere Praxis der schwedischen Regierung in solchen Dingen lasse eine Übergabe angezeigt erscheinen. Es seien schon früher geflüchtete deutsche Soldaten an andere Alliierte ausgeliefert worden, beispielsweise an Frankreich; die jetzt in schwedischen Lagern internierten deutschen Soldaten seien recht zahlreich, etwa dreitausend. Die meisten seien von der Ostfront gekommen, und man könne sie ja schließlich nicht ewig hierbehalten.
Das Problem schien sehr einfach, es war kurz vor der Lunchzeit, man wollte gleich aufbrechen, und alles schien völlig selbstverständlich. Die deutsche Armee, die so viel Böses angerichtet hatte, sollte sich den Folgen der Niederlage nicht einfach entziehen können. In der Sowjetunion gab es viel aufzubauen. Die Internierten würden als Arbeitskräfte gut zu gebrauchen sein.
Günther schloss seinen Vortrag, der etwa fünf Minuten gedauert hatte, mit einigen Erläuterungen.
– Es gibt unter den Internierten noch einige Angehörige anderer Nationen, die sich freiwillig der deutschen Wehrmacht angeschlossen haben, so zum Beispiel eine Gruppe von Balten. Es wird uns allerdings ziemlich schwerfallen, irgendwelche Unterschiede zwischen ihnen zu machen. Sie sind ja alle Angehörige der deutschen Wehrmacht gewesen und sollten deshalb alle ausgeliefert werden.
Es kam ein schwaches Gemurmel auf. Einige stimmten zögernd zu, es war schon spät, niemand erfasste das Problem oder hatte die Kraft, sich hineinzudenken, und für die meisten war die Auslieferung eine Selbstverständlichkeit. Man diskutierte einige Minuten lang die Möglichkeit, den Internierten zu bescheinigen, dass sie vor dem Tag des Waffenstillstands geflohen seien, um ihnen disziplinarische Strafen zu ersparen, aber die Diskussion war kurz und planlos, und es kam zu keinem Beschluss. »Wir waren ja daran gewöhnt, dass sämtliche Probleme in den Ministerien sorgfältig vorbereitet wurden, die Auslieferung war für uns nicht problematisch. Wir wollten die Besprechung nicht mit Einzelheiten in die Länge ziehen, viele von uns werden auch kaum begriffen haben, worum es eigentlich ging, einige werden nicht einmal richtig zugehört haben.«
Die Diskussion war zu Ende, ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte, und es kam zum allgemeinen Aufbruch.
Auf der Treppe zum Lunchraum ging ein sozialdemokratischer Minister, nennen wir ihn A., neben einem bürgerlichen, den wir Ewerlöf nennen wollen. A. fragte:
– Du, was hat er eigentlich zum Schluss noch gesagt? Hast du eigentlich verstanden, worum es ging?
– Was meinst du denn? sagte Ewerlöf.
– Dasss wir irgendwelche Balten ausliefern sollen; es soll unter den deutschen Soldaten einige geben. Hat er das nicht gesagt?
Ewerlöf grunzte zustimmend, sagte aber nichts.
– Doch, so war’s, fuhr A. fort. Du glaubst doch nicht, es könnte ein Fehler sein? Dass wir einen Irrtum begehen? Dass wir unsere Hände mit Blut beschmutzen?
Sie waren aber schon vor dem Lunchraum angekommen, gingen durch die
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