Die Ausgelieferten
Emigranten besucht, die sie über die Gefahren und Risiken einer Rückkehr aufklärten. Die Russen würden sie mit Sicherheit hinrichten. Die Russen hatten Lettland jetzt besetzt und hielten das Land in eisernem Griff.
Es blieb ihnen jedoch die Hoffnung, dass der Kommunismus in einem dritten Weltkrieg zerschlagen und ihr Land befreit werden könnte. Politische Diskussionen waren im Lager sehr häufig. Der achtzehnjährige Ofensetzer, dessen Eltern in Lettland lebten, blickte voller Unruhe in die Zukunft. Keine seiner Zukunftsaussichten schien befriedigend zu sein. Im übrigen spielte er Fußball und meldete sich manchmal zu irgendeiner freiwilligen Arbeit.
Die Soldaten sprachen oft über ihre Offiziere, dagegen nicht mit ihnen, jedenfalls nur äußerst selten. Wenn ihnen etwas befohlen wurde, gehorchten sie. Die alte Ordnung war noch in Kraft. Darüber sprachen sie oft miteinander.
Am 9. August schickten sechs der jüngeren Soldaten einen Brief an den ehemaligen sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten Bruno Kalnins, der in Stutthof gesessen hatte, befreit worden war und jetzt in Schweden lebte. Sie wussten, dass er für ihre Freilassung arbeitete.
»Sehr geehrter Herr Kalnins« , schrieben sie. »Wir bitten Sie zu entschuldigen, dass wir gezwungen sind, Sie zu stören. Wir wissen, dass Sie viel getan haben, um uns zu helfen, aber wir glauben, dass Sie über manche Dinge hier im Lager nicht Bescheid wissen.
Unser Chef, Hauptmann E. Kessels, umgibt sich mit großer Geheimniskrämerei. Wir sind sogar der Meinung, dass er einer Regelung unseres weiteren Schicksals hinderlich ins Wege steht. Er ist kein aufrechter Lette. Er hat gesagt, dass der Staat Lettland aus Versehen entstanden und dass das lettische Parlament eine Quatschbude gewesen sei. ›Wir müssen zusammen mit Deutschland untergehen‹, hat er uns sehr oft gesagt.
Sie werden hoffentlich verstehen, dass unser Misstrauen begründet ist. Wir wenden uns an Sie, damit Sie erfahren, dass dies die Meinung der Mehrheit im Lager ist. Unsere Jungen setzen alle Hoffnungen auf Sie.
Wir haben Kessels’ Vormundschaft bislang geduldet, aber jetzt wünschen wir die Vermittlung dieses Herrn nicht mehr, sondern wollen, dass man sich direkt an uns wendet.
Mit Russen oder Deutschen wollen unsere Jungen nichts zu tun haben, und eine Gleichstellung mit den Deutschen wäre für uns eine Ohrfeige.
Sollte die schwedische Regierung dennoch so verfahren, können wir nichts dagegen tun. Wir wollen aber unsere Sache, die sich vielleicht noch zu unserem Besten regeln lässt, nicht von einem einzelnen Mann und einigen seiner Anhänger zerstören lassen, die eine andere Auffassung vertreten als wir. Wir wollen diesen Brief nicht als eine Anklage verstanden wissen. Wir wollen Sie nur über die Meinung der Mehrheit hier im Lager unterrichten, damit Sie bei Ihren weiteren Bemühungen, eine für uns günstige Lösung zu erreichen, über die hiesigen Zustände Bescheid wissen.«
Der Brief war von sechs einfachen Soldaten unterzeichnet, die meisten von ihnen waren jung, blutjung. Der Brief ist Anfang August geschrieben worden, er ist ein erstes Zeichen des sich anbahnenden Konflikts zwischen den deutschfreundlichen baltischen Offizieren und den einfachen Soldaten. Die Kluft zwischen den beiden Lagern sollte sich noch weiter vertiefen. Der Untersucher sollte das in allen Gesprächen, die er zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen führte, immer wieder zu spüren bekommen. Dennoch war die Kluft nie so tief, als dass sie nicht durch die Krisensituation im November 1945 hätte überbrückt werden können. Von einem waren viele überzeugt: wäre die Kluft zwischen den Offizieren und den Mannschaften tief genug geworden oder wäre es gar zu einem vollständigen Bruch gekommen, hätten die Dinge einen anderen Verlauf genommen. »Sollte die schwedische Regierung dennoch so verfahren, können wir nichts dagegen tun.« In dieser Formulierung deutet nichts auf Verzweiflung hin oder auf einen Willen, an Stelle einer Auslieferung lieber in den Tod zu gehen. Die Verzweiflung sollte einem späteren Stadium, einer anderen Situation, vorbehalten bleiben. Jetzt, im August, war alles noch ruhig. Man sollte noch etwas hinzufügen: die Legionäre wussten sehr wohl, dass ihre Lage kritisch war, vielleicht sogar hoffnungslos. Informationen kamen durch viele Kanäle ins Lager, es gab viel Besuch, und die Besucher waren zumeist äußerst gut informiert.
Außerdem bekamen die Insassen Briefe.
Am 7. Juni
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