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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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hatte der lettische Exil-General Tepfers einen Brief an die Lagerinsassen geschrieben und angedeutet, dass eine Auslieferung nicht ausgeschlossen werden könne. Er ging dabei von den Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens aus. In der Nacht vom 25. auf den 26. Juni diskutierten die Offiziere des Baltenlagers bis in die frühen Morgenstunden, nachdem sie erfahren hatten, dass die internierten Polen über Russland an Polen ausgeliefert werden sollten. »Das ist ein völlig neuer Aspekt.« Am 3o. Juni bekam einer der Offiziere von einem Redakteur der Latvju Vards , einer Emigranten-Zeitung von der äußersten Rechten, einen Brief. Dieser schreibt, dass die Lage der Insassen »äußerst ungewiss« sei. Am 24. Juli erhält ein anderer Offizier einen Brief von General Tepfers. Er enthält eine detaillierte Analyse der Situation. Tepfers betont, dass die Lage der Internierten während des ganzen Sommers »äußerst kritisch« gewesen sei, dass die Soldaten gegenwärtig aber keine unmittelbare Gefahr zu fürchten hätten.
    Die nächste Woche verbringen die Insassen mit ununterbrochenen Erörterungen »ihrer Lage«. Sie sind sich jetzt bewusst, dass die Gefahr einer Auslieferung an die Sowjets sehr groß ist, dass die Auslieferung möglicherweise unvermeidlich ist. Sie richten Anfragen an die schwedischen Behörden und schreiben viele Briefe.
    Am 8. August erschien ein Mann des Roten Kreuzes, er hieß Hellman – derselbe Mann, dessen Vortrag später unter den Deutschen auf Gotland eine Fluchtepidemie auslösen sollte. Er orientierte die Insassen über ihre rechtliche Stellung, was ihnen aber keine völlige Sicherheit gab. Einige wurden in ihren Befürchtungen bestärkt, andere fühlten sich beruhigt.
    Am Abend des 8. August versammelten sich einige lettische Soldaten – nach dem Vortrag Hellmans –, um den bereits erwähnten Brief an Bruno Kalnins zu schreiben. In diesem Brief finden sich einige interessante Formulierungen, ein Zeichen von vielen, dass die Balten-Affäre eine ganz andere Entwicklung hätte nehmen können. Aber noch sind es drei Monate bis November: Gefühle haben noch Zeit, sich zu verändern. Wie beschreibt man den Mechanismus eines Gefühls?
    Dass die meisten der 167 Balten in Schweden bleiben wollten, ist offenkundig. Sie wollten hierbleiben, wollten es auch im Sommer 1945. Dieser Wunsch war nicht verzweifelt, aber bestimmt. Wer dagegen den verzweifelten Wunsch hatte, in Schweden zu bleiben, waren die Offiziere. Sie sollten die weitere Entwicklung der Dinge mitbestimmen.
    Nur einer der Balten hatte sich von Anfang an entschieden und überzeugt dafür ausgesprochen, in die Heimat zurückzukehren. Er war kein Kommunist, zeigte aber völliges Unverständnis angesichts der Berichte über das Hausen der Russen in Lettland, mit denen sich einige geradezu zu überbieten suchten. Er hatte, was für ihn am wichtigsten war, seine Familie in Lettland, und wollte so schnell wie möglich nach Hause. Er wollte nicht in Schweden leben, er wollte nach Hause. Für Argumente war er total unempfänglich.
    Anfang November stellten schwedische Ärzte fest, dass er an Tbc litt; man brachte ihn sofort in ein Stockholmer Krankenhaus, und mit diesem Augenblick verschwindet er aus der Geschichte. Als die anderen ausgeliefert wurden, lag er noch immer in der Klinik.
    Am 11. Oktober kam das Gotland-Kontingent der Balten in Ränneslätt an. In dieser Gruppe befanden sich sowohl Elmars Eichfuss-Atvars wie Oberstleutnant Gailitis. Ernests Kessels war schon früher nach Ränneslätt gekommen.
    Jetzt hatten die Balten drei Führer.
    Der Konflikt zwischen Eichfuss und Gailitis kam schon in den ersten Tagen in Ränneslätt zum Ausbruch. Sie sahen wohl beide ein, dass ihr Streit überflüssig war, unpraktisch, dass gegenwärtig allzu viele um die Vorherrschaft im Lager stritten. Ihr Streit würde niemandem nützen, das wussten sie. Sie bekamen aus einer unerwarteten Ecke Hilfe: aus dem Lager der Deutschen.
    Eichfuss beschrieb in einem Brief den glücklich beigelegten Konflikt. Über den Deutschen, der sich eingemischt hatte, schrieb er: »Es gibt hier einen Mann, der in Stutthof gewesen ist, in dem KZ, in dem Gailitis gedient hat. Er konnte sich über die Tätigkeit von Gailitis nur positiv äußern.«
    Am 7. November kam es zum nächsten Zusammenstoß, aber diesmal sind die Zeugnisse teils widersprüchlich, teils unklar. Eichfuss stellt in einem Brief fest: »Gestern sind wir alten Havdhemer zusammengekommen, um die Streitigkeiten zu

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