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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Ystad nach Bökeberg und dann hierhergekommen; jetzt hatten sie die Wendemarke erreicht. Die Deutschen hatten sich bereits etabliert, sie waren um den 12. Mai herum angekommen. Nach ihrer Ankunft hatten sie innerhalb des Lagers sofort einen Kriegsgerichtshof eingerichtet, da sich in ihren Reihen vier Soldaten befunden hatten, die sich schon am 3. Mai von der Ostfront abgesetzt hatten und daher im technischen Sinn als Deserteure galten. Diese vier Männer waren sofort festgenommen, in einer Baracke eingeschlossen und rasch, aber äußerst formell zum Tode verurteilt worden. Am Abend des 13. Mai befestigte man Stricke an den Bäumen, die Deserteure wurden mit auf den Rücken gebundenen Armen zu den Schlingen geführt, ein Offizier diente als Feldgeistlicher und sprach ein Gebet für die Verurteilten, und der erste stand schon unter der Schlinge, als das schwedische Wachpersonal eintraf und zur allgemeinen Enttäuschung die Hinrichtung abbrach.
    Die deutsche Gruppe hatte sich also schon häuslich eingerichtet, die Organisation war gut, die Moral hervorragend und die Disziplin vollendet. Die Balten wurden von den Deutschen höflich, aber ohne jede Begeisterung empfangen. Nach und nach kühlten die Gefühle ab, die Balten wurden abgesondert und in einem getrennten Lager untergebracht. Man nannte es das Baltenlager, es lag im südlichen Teil von Ränneslätt, in nächster Nähe der Stadt. Die baltischen Soldaten wurden links des Feldwegs in Baracken einquartiert, die Offiziere auf der rechten Seite. Das Zentrum des Lagers der Deutschen lag auf der anderen Seite der Ebene, etwa einen Kilometer entfernt. Die gesamte Anlage war durch Stacheldraht gesichert, und beide Lagerteile wurden von demselben Wachpersonal bewacht.
    Es ist unmöglich, über den baltischen Teil des Lagers zu sprechen, ohne den deutschen Teil zu erwähnen. Sie wirkten aufeinander ein, obwohl sie getrennt waren.
    Ränneslätt war also in zwei Hälften geteilt: in das große deutsche und das kleine baltische Lager. Die innerhalb des baltischen Lagers bestehenden Trennungslinien zu beschreiben ist schwieriger; nach der Ankunft des Gotland-Kontingents wird diese Aufgabe nahezu unmöglich.
    Es gab also Gegensätze und Spannungen.
    Porträt eines Ofensetzers. Im Alter von sechzehn Jahren, nach Beendigung seiner Schulzeit, bekam er eine Anstellung als Ofensetzer. Mit siebzehn wurde er zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Er zögerte einige Tage: er sagt, er habe erwogen, zur Eisenbahn zu gehen, weil Eisenbahner vom Wehrdienst befreit worden seien. Er wählte jedoch die Armee. Grund? »Ich erhielt den Einberufungsbefehl und gehorchte.«
    Er lernte, den Offizieren zu gehorchen und nähere Berührung mit ihnen zu vermeiden. »So gebot es die alte Ordnung.« Einige Offiziere waren recht umgänglich, andere weniger. »Ein paar waren auch nationalsozialistisch angehaucht.« Er zählt eine Handvoll Ausnahmen auf, die er als gute lettische Patrioten bezeichnet. Es gab aber auch deutsche Offiziere unter den lettischen Staatsbürgern. Er versucht, den zwischen Offizieren und Mannschaften gewahrten Abstand zu schildern, der im Laufe des Sommers 1945 immer größer wurde. Die Offiziere wohnten in den Offiziersbaracken, die Soldaten sprachen nur dienstlich mit ihnen. Die Offiziere gaben Befehle, und die Soldaten gehorchten.
    In jenem Sommer begannen im Lager auch politische Diskussionen. Es waren die lettischen Soldaten, die miteinander diskutierten; die Diskussion dehnte sich aber nicht auf den Kreis der Offiziere aus, oder richtiger gesagt, beide Gruppen diskutierten für sich. Vor allem erörterten sie die Unterschiede zwischen kommunistischer, nazistischer und demokratischer Mentalität.
    Die Männer sahen mit Unruhe in die Zukunft.
    Der Ofensetzer war 1945 achtzehn Jahre alt. Seine Eltern lebten noch in Lettland. Briefe oder andere Nachrichten bekam er von ihnen natürlich nicht, er ging aber davon aus, dass sie noch lebten. Der Lebensstandard war in Schweden zweifellos viel höher, als man es sich von Lettland vorstellen konnte; aber Lettland war sein Vaterland. Schweden war demokratisch, Lettland totalitär. Bei den Diskussionen zu Beginn des Sommers äußerten er und viele seiner Kameraden, sie wüssten nicht, wie sie sich in Zukunft verhalten sollten. Allmählich nahm ihre Unschlüssigkeit ab und verschwand schließlich ganz. Sie erfuhren von vielen Seiten, welches Schicksal sie nach einer eventuellen Rückkehr erwartete. Sie wurden in den Lagern von lettischen

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