Die Ausgelieferten
beenden, jedenfalls solange wir in Schweden sind.« Der Versuch, die Streitaxt zu begraben, misslang offenbar, aber dafür kam ein anderer Streitpunkt zum Vorschein. Nach einer stürmischen Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Offiziere und der Mannschaften zogen sich die letzteren mit der Erklärung zurück, sie weigerten sich, mit Eichfuss, Gailitis oder Kessels in irgendeiner Form zusammenzuarbeiten; Kessels gegenüber äußerten sie die meisten Vorbehalte.
Die Krisenkonferenz wurde noch einen Tag lang fortgesetzt; danach zeigten sich die Auswirkungen. Kessels, der im baltischen Teil des Lagers keine Unterstützung mehr fand, kam in das deutsche Lager, wo er in Zukunft wohnen sollte: seine Rolle war zu Ende. Gailitis wurde mit Unterstützung von Eichfuss zum Sprecher der Offiziere und zum Vertrauensmann gegenüber der schwedischen Lagerleitung gemacht. Die einfachen Soldaten wählten ebenfalls einen Vertrauensmann, der ihre Belange vertreten sollte. Es musste ein Offizier sein, und sie wählten Paul Lielkajs, einen lettischen Leutnant.
Man muss hinzufügen: der Kampf um die Vorherrschaft im Baltenlager, dieser Kampf im Kleinformat, wurde implizit nach politischen oder ideologischen Mustern geführt. Er sollte direkte politische Auswirkungen nach sich ziehen.
2
Um Gottes willen, wer kann heute noch von uns verlangen, dass wir den alten, verstaubten Reglements des früheren preußischen Militärs folgen sollen? Ich glaube nicht, dass irgend jemand das noch erwarten kann, es sei denn ausgerechnet diese verblendeten Nazijünglinge in der »Potsdam-Residenz Ränneslätt«.
Rudolf Hein, Brief vom 26.9.1945
V ersuch einer Beschreibung der »alten Ordnung«: kurzes Intermezzo in Ränneslätt am 15. Oktober 1945. Beschreibung und Konsequenzen. Überschrift: die Vernichtung der »demokratischen Gruppe«.
In den Untersuchungsprotokollen wird der Fall unter folgender Überschrift geführt: »Die Umstände des Überfalls im Internierungslager zu Ränneslätt am 15. Oktober 1945 sowie einige damit zusammenhängende Fragen.« Es werden vor allem bestimmte Dinge im deutschen Teil des Lagers berührt, aber auch das Baltenlager hat Konsequenzen zu verzeichnen.
Der deutsche Teil des Lagers von Ränneslätt wurde im Lauf des Sommers immer mehr zu einem Staat im Staate. Den Deutschen wurde eine große interne Freiheit belassen, sie organisierten ihr Lagerleben weitgehend selbst; ihre Disziplin, die auf den alten Befehlsverhältnissen aufbaute, war mustergültig, militant und unerhört hart. Der Krieg war zu Ende, die Armeen wurden allmählich aufgelöst und zerfielen, die allgemeine Müdigkeit brach in diesem ersten Friedenssommer über Europa herein, aber in Ränneslätt in Schweden war noch ein letzter Rest der vollendeten, präzis arbeitenden deutschen Kriegsmaschine vorhanden; das Zeremoniell war intakt, ebenso der absolute Gehorsam, die militärische Hierarchie. Vor allem war die ideologische Basis völlig unbeschädigt. Es waren Elitesoldaten, die hier versammelt waren, sie hatten ihre Vitalität bewahrt, sie waren ungeschlagen und organisierten ihre Welt mit unerhörter Präzision. Die schwedischen Offiziere sprachen oft voller Staunen und Bewunderung darüber: wie dieser kleine Teil der deutschen Wehrmacht sich sogar in der Gefangenschaft rasch erholte und die alte Gestalt annahm.
Überall in Schweden gab es diese Lager für deutsche Soldaten: in Backamo, Grunnebo, Havdhem, Rinkaby, Gälltofta und in Ränneslätt. Das letztgenannte Lager mag als repräsentativ gelten, nicht zuletzt, was die ideologische Geschlossenheit betrifft. Denn darin sind sich fast alle Zeugen einig: dass die überwiegende oder überwältigende Mehrheit der deutschen Offiziere aus Nazis bestand. Diese waren ideologisch gefestigt und keineswegs gewillt, ihre Positionen aufzugeben.
Eine kleine Minderheit unter den Deutschen in Ränneslätt war nicht nazistisch, etwa ein Prozent der Internierten, genau elf Mann. Sie wurden entweder »die demokratische Gruppe« oder »die Kommunisten« genannt, je nach der Position des jeweiligen Beobachters. Gewöhnlichen Definitionen zufolge scheint jedoch kaum einer von ihnen Kommunist gewesen zu sein. Sie protestierten gegen die – wie sie es auffassten – nazistische Indoktrination, die in Ränneslätt praktiziert und von der schwedischen Lagerleitung mehr oder weniger geduldet wurde.
Am Abend des 15. Oktober 1945 gingen zwei der Mitglieder dieser demokratischen Gruppe, Auler und Schöppner, zur
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