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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Legionäre erinnern sich sehr deutlich an die damaligen Ereignisse, selbst noch zwanzig Jahre danach.
    Fragment eines Interviews vom 15. Juli 1967 in Riga, Lettland.
    – Ja, wir hatten große Angst. Wir wollten nicht nach Lettland zurück, wir wussten, dass dort der Tod auf uns wartete. Die Offiziere hatten uns von einer Rundfunksendung aus Madona erzählt, in der die Russen versprachen, uns alle hinzurichten, wenn sie uns nur zu fassen kriegten.
    – Haben Sie nie bezweifelt, was die Offiziere sagten?
    – Dies hatte man uns schon früher erzählt, nicht erst Ende November, während des Hungerstreiks. Vorher gab es viele Konflikte. Aber dann wurde uns ja klargemacht, dass an der alten Ordnung nicht zu rütteln war, und im Besitz dieser Erkenntnis gab es für uns nicht mehr viel zu diskutieren.
    – Die alte Ordnung?
    – Ja, die alte Ordnung, die wir vom Krieg her kannten: »nicht diskutieren, sondern nur gehorchen.« Selbst die Schweden hatten uns ja klar vor Augen geführt, dass daran nichts zu ändern war. Als es dann später kritisch wurde, haben wir es vorgezogen, allen Befehlen der Offiziere zu gehorchen.
    – Haben die Schweden das wirklich getan?
    – Ja, aber das ist eine lange Geschichte; es gab damals im deutschen Lager eine kleine Gruppe, die gegen die deutschen Offiziere opponierte. Eines Nachts wurden zwei Männer dieser Gruppe von den Nazis überfallen und fast totgeschlagen. Man trug sie zu Slaidins, unserem Arzt; danach glaubten wir alle, die Schuldigen würden bestraft werden. Aber der schwedische Lagerchef trommelte alle Insassen zusammen, holte die Mitglieder der demokratischen Gruppe heraus, ließ sie festnehmen und ins Gefängnis stecken. Und damit war die alte Ordnung wiederhergestellt.
    Die Episode, an die sich die meisten am besten erinnern, ist genau diese: der Appell auf dem Platz vor den Baracken, das Abführen und die Festnahme der demokratischen Elemente. Die Balten zögern häufig, wenn sie das Erniedrigende der Situation wiedergeben sollen: den harten und arroganten Ton des schwedischen Offiziers, das Gelächter über die Verhafteten und das höhnische Geschrei der anderen Deutschen. Das Rätselhafte an diesem Ereignis: dass die Angreifer straffrei ausgingen und dass die Angegriffenen angeklagt wurden.
    Hatten die Balten das wirklich mit eigenen Augen gesehen? Hatten sie selbst am Appell teilgenommen? Oder waren die ausführlichen und dramatischen Versionen, die von einigen wiedergegeben wurden, nur ein Aufguss aus zweiter Hand?
    Immer wieder kommen die Balten auf genau dieses zurück: das Gelächter, das höhnische Geschrei, mit dem die kleine Gruppe von Nazigegnern unter den Deutschen überschüttet wurde, ausgerechnet jene Deutschen, die bislang die einzigen gewesen waren, mit denen die Balten hatten sprechen und umgehen können, die Erniedrigung der Gruppe von Männern, die verhaftet wurden, was endgültig bewies, dass die alte Ordnung in Ränneslätt für immer gelten sollte.
    Die Erinnerung der baltischen Soldaten ist eine Sache, die der baltischen Offiziere eine andere.
    Vincas Lengvelis, litauischer Leutnant, Bewohner des großen weißen Offiziershauses, Partisanenjäger und Tagebuchschreiber, gibt in wenigen kurzen Sätzen seine Ansicht über das Geschehen kund. »Unter den deutschen Soldaten entstand allmählich eine deutsch-kommunistische Organisation. Es kam zu fürchterlichen Schlägereien, in denen die Kommunisten jedoch schließlich den kürzeren zogen. Nach den Prügeleien wurde das Lager von deutschen Kommunisten gesäubert; man brachte sie in einem Sonderlager unter.«
    Wie beschreibt man den Mechanismus eines Gefühls? Wie beschreibt man den Mechanismus eines entstehenden Gefühls, eines sich ändernden, eines völlig verwandelten Gefühls? Wie beschreibt man den Mechanismus der Situation, die den Menschen bis zu jenem Punkt treibt, an dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist?

3
    Einen richtigen Kontakt bekamen wir nicht zu ihnen, wir sahen sie meist nur aus der Ferne. Aber durch die Zeitungen erfuhren wir ja, wie es um sie stand.
    Soldat der Wachtruppe, Interview vom 19.9.1966
    E r versuchte lange, von der dominierenden politischen Einstellung der Offiziere des Wachpersonals und der übrigen Offiziere in Eksjö ein einheitliches Bild zu gewinnen, gab aber nach einiger Zeit auf. Zwar war die Haltung der Offiziere im Rahmen des Ganzen durchaus nicht bedeutungslos gewesen, aber es schien unmöglich zu sein, ein Bild zu entwerfen, das ihnen voll gerecht wurde. Die

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