Die Ausgelieferten
anonym zu bleiben. Er befindet sich auf der Rückreise von einer Konferenz in Dänemark, an der er als Vertreter des Kommunalverbands der Arbeiter der Stadt Stockholm teilgenommen hat. Die Konferenz hat vier Tage gedauert. »Sie ist vorwiegend deshalb zustande gekommen, damit wir einander näher kennenlernen«; diese Phrase wird mehrmals wiederholt und stammt offenbar aus einer der Begrüßungsansprachen. Er war im Sommer 1945 zwei Wochen lang Wachposten im Lager von Ränneslätt. Seine Furcht vor den Internierten beschreibt er ausführlich. »Wir sollten allein um die Baracken herumpatrouillieren; man hatte uns gesagt, wir sollten auf der Hut sein, wir könnten uns mit einem Messer im Rücken wiederfinden. Ich hatte eine Scheißangst, bin noch nie so ängstlich gewesen wie damals, in meinem ganzen Leben nicht.« Deshalb habe er der Lagerleitung vorgeschlagen, Doppelposten einzusetzen, was zunächst abgelehnt worden sei. Nach einer Weile beginnt er darüber zu sprechen, was er von dem schwedischen Offizierskorps hält. Er ist der Meinung, dass sie in einem Krieg gegen die Deutschen nicht zuverlässig sein würden. »Ich weiß noch genau, was wir damals sagten: sollte es einmal knallen und wir mit den Deutschen in einen Krieg verwickelt werden, kriegen die schwedischen Offiziere die ersten Kugeln.« Er ist nicht bereit, nuanciertere Unterschiede zu machen. Nach einem halbstündigen Gespräch zieht er sich in seine Schale zurück und antwortet nur noch ausweichend, will seinen Namen nicht nennen, will in der »Affäre« nicht mehr herumrühren. Sagt aber bestimmt, dass es richtig gewesen sei, die Balten auszuliefern. »Darüber gibt’s keinen Zweifel, das war völlig richtig.« Er trägt einen grauen Anzug, darunter eine Strickweste; ist nicht der Meinung, dass die bürgerliche Machtübernahme in Stockholm einschneidende Veränderungen mit sich gebracht habe. Ist gewerkschaftlich tätig. Erzählt später von der Konferenz in Dänemark, die lebhaft gewesen sei.
Lagerkommissar des Lagers von Ränneslätt, Alter 49 Jahre, Name Sigurd Strand. Seine ausgezeichneten deutschen Sprachkenntnisse hatte er im Selbststudium erworben. Als Kommissar hatte er zu fast allen Internierten direkten Kontakt, hielt sich fast jeden Tag im Lager auf, übte sein Amt während der gesamten Lagerzeit aus.
Wie alle, die mit den Internierten in nähere Berührung kamen, erkannte er bald den psychologischen Abstand zwischen den Balten und den Deutschen. Unter den Deutschen gab es aber auch Gegensätze, es war leicht zu erkennen, dass viele Nazis waren. Nach außen hin, den Schweden gegenüber, benahmen sie sich mustergültig, waren ideale Gefangene. Man konnte gut mit ihnen umgehen, ihre Disziplin war noch immer knochenhart, sie waren äußerst höflich und aufmerksam. Ihre unverbrauchte Vitalität machte das Auskommen mit ihnen leicht. Strand war ihnen oft behilflich, wenn sie irgend etwas kaufen wollten; er fuhr oft mit langen Einkaufslisten in die Stadt. Ihre Dankbarkeit war rührend, sie waren ausgezeichnete Arbeiter und perfekte Organisatoren, sehr neugierig, wissbegierig, sie fragten und fragten, es war fast unmöglich, mit ihnen nicht auf gutem Fuß zu stehen.
»So dachten wohl fast alle Schweden.«
Mit den Balten war es anders. Sie hielten sich oft abseits, die Soldaten sprachen nicht sehr gut Deutsch, und mit ihnen kam S. kaum in Berührung. Mit den Offizieren unterhielt er sich jedoch oft, ohne sie allerdings richtig zu verstehen. Im Gegensatz zu den Deutschen interessierten sie sich überhaupt nicht für die Arbeit im Lager, sie lungerten meist herum, »eine trübe Gesellschaft«. Es war schwer, an sie heranzukommen. S. erfüllte auch den Balten gelegentlich kleine Wünsche, allerdings ohne große Begeisterung. »Sie meckerten und jammerten über jeden Dreck.« Alle Gespräche zwischen S. und den baltischen Offizieren waren kurz, oberflächlich, bruchstückhaft. Wenn sie auf die Kriegsjahre zu sprechen kamen, zeigten die Balten sich unwillig, auf größere Zusammenhänge einzugehen. »Ich glaube, viele Offiziere hatten eine ganze Menge hinter sich: sie sagten oft, nach einer Rückkehr ins Baltikum würde man sie vor Gericht stellen.« Immer wieder kommt S. darauf zurück: dass es unmöglich war, ihnen nahezukommen. »Sie liefen bloß mit sauren Mienen herum.« Über Politik sprachen sie nur selten miteinander, nur über ihre Vergangenheit und Zukunft. Nur einmal, wie S. sich erinnert, wurde auf eine aktuelle politische Situation
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