Die Ausgelieferten
Fällen einem schwedischen Wachposten Briefe übergeben, der sie direkt an die schwedische Lagerführung weitergeben sollte. Wurden den Insassen von Ränneslätt Dokumentarfilme aus den deutschen Konzentrationslagern vorgeführt? Nein. Wurden die Insassen über die Existenz solcher Lager informiert? Nein. Ist versucht worden, die nazistische Dominanz im Lager zu brechen? Nein, natürlich nicht, denn nach der Lagerordnung war alle politische Propaganda verboten. Dagegen wurde eine politisch absolut neutrale deutsche Lagerzeitung herausgegeben, deren Spalten zumeist mit Lagerinterna sowie einigen wenigen Zitaten aus schwedischen und internationalen Kritiken am Verhalten der Besatzungsmächte in Deutschland gefüllt waren.
Beispiel für politische Propaganda eines Mitglieds der demokratischen Gruppe; Brief vom 26. September 1945.
»Um Gottes willen, wer kann heute noch von uns verlangen, dass wir den alten, verstaubten Reglements des früheren preußischen Militärs folgen sollen? Ich glaube nicht, dass irgend jemand das noch erwarten kann, es sei denn ausgerechnet diese verblendeten Nazijünglinge in der ›Potsdam-Residenz Ränneslätt‹. Auch später, im vollständig freien Leben, wird es doch keinem einfallen, sich allzu frei und undiszipliniert aufzuführen, obgleich der Zwang, Vorgesetzte mit ihren früheren militärischen Titeln anzureden, fortgefallen ist. Genau das könnte man schon jetzt erreichen; auch auf diese Weise ließen sich junge Menschen für das zukünftige, völlig entmilitarisierte Leben vorbereiten, nicht wahr? Was in unserem Lager fehlt, ich sage es ganz offen, ist eine demokratische Schulung, die den Weg ins künftige Leben erleichtern könnte, eine planmäßige Vorbereitung unserer jungen Menschen auf die kommenden schweren Jahre, in denen es darauf ankommen wird, unserem neuen Deutschland im Kreis der demokratischen Mächte den Platz zu verschaffen, der unserem Land zum Nutzen und zum Segen aller zukommt. An den kommenden langen Winterabenden könnte man uns auch von außen unterstützen, indem man Vortragsabende arrangiert, an denen man uns die Grundlinien demokratischer Staatsformen erläutern könnte, was ja schon in allen Kriegsgefangenenlagern der Alliierten geschieht. Wenn wir wirklich erst im Frühjahr 1946 nach Deutschland zurückkehren sollten, dann wird die dortige Jugend schon ein ganzes Nachkriegsjahr lang Zeit gehabt haben, sich mit den neuen Gedanken zu beschäftigen und sich viel Wissenswertes anzueignen. Unsere jungen Leute dagegen werden den veränderten politischen Verhältnissen völlig fremd gegenüberstehen.«
Der Prozess gegen die elf »demokratischen Elemente« wurde leider nie zu Ende geführt; die Auslieferung kam dazwischen, und die Angeklagten konnten ihre gerechte Strafe nicht erhalten. Bei der Auslieferung war diese Gruppe von elf Mann die einzige, die den Anweisungen willig und ohne Proteste folgte. Am 6. Dezember 1945 trat das Kriegsgericht zum letztenmal zusammen; es wurde festgestellt, dass Ankläger wie Angeklagte an die Sowjetunion ausgeliefert werden würden und dass der Prozess nicht zu Ende gebracht werden könne. Der schwedische Staatsanwalt zog daraufhin seine Klage zurück. Der Verteidiger verlangte die Summe von 610 Kronen als Honorar und Ersatz für seine Auslagen, was ihm bewilligt wurde.
Für die einfachen baltischen Soldaten in Ränneslätt war der Zwischenfall mit der demokratischen Gruppe ein Schock. Die allermeisten der einfachen baltischen Soldaten mochten die Deutschen nicht oder verabscheuten sie, und sie wussten, dass diese Gefühle gegenseitig waren. Mit einigen Deutschen jedoch ließ sich umgehen, und das waren genau die elf »Demokraten«. Sie spielten manchmal Fußball gegen sie, sie verstanden sich, und sie teilten ihre Abneigung gegen den militärischen Drill. Manchmal liehen sie sich gegenseitig Schreibmaschinen aus.
Sie konnten miteinander leben.
Im Verlauf des Sommers und des Herbstes schienen sich zwei parallellaufende Entwicklungen gleichzeitig abzuspielen. Einmal der Konflikt der demokratischen Gruppe mit den anderen Insassen des deutschen Lagers. Zum andern die sich ständig vertiefende Kluft zwischen den baltischen Soldaten und der Mehrheit der baltischen Offiziere. Das Geschehen im deutschen Lager war dramatischer, sprang mehr ins Auge. Die Gegensätze innerhalb des baltischen Lagers kamen nicht zum vollen Ausbruch, nicht zuletzt infolge des Ausgangs der Affäre Auler und Schöppner.
Viele der ehemaligen baltischen
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