Die Ausgelieferten
angespielt. Es ging um einen Deutschen.
Nach der Entdeckung der Konzentrationslager drangen die Gerüchte über sie allmählich auch bis nach Ränneslätt. Es gab allerdings nicht viele, die diesen Gerüchten Glauben schenkten oder es für notwendig hielten, darüber auch nur zu diskutieren. Eines Tages jedoch bat ein deutscher Oberst S., in sein Zimmer zu kommen. Der Oberst fragte ihn, ob er diesen Geschichten über die deutschen KZs und die Millionen ermordeter Juden glaube. S. sagte ja. Sie sprachen eine Weile über das Thema, dann ging S. hinaus, um ein Exemplar der Zeitschrift SE zu holen. Sie enthielt viele Bilder aus den Konzentrationslagern, auf denen Leichenhaufen und Reihen von Verbrennungsöfen zu sehen waren. S. gab dem Oberst die Zeitschrift in die Hand; dieser war jetzt über fünfzig, hatte während des ganzen Krieges an der Ostfront gekämpft, ein alter Preuße von echtem Schrot und Korn, der Menschen nur selten an sich herankommen ließ. Der Oberst studierte das Blatt genau, sah die Bilder lange an, bat um eine Übersetzung einiger Textpassagen, legte dann die Zeitschrift weg, legte sich aufs Bett und weinte. Er weinte offen, bewahrte aber seinen korrekten Gesichtsausdruck, den Blick fest an die Zimmerdecke geheftet. Dann stand er wieder auf, dankte für die Zeitschrift und bat, sie über Nacht behalten zu dürfen, um sie ausführlicher betrachten zu können. Am nächsten Morgen, nach dem Appell, brachte er S. die Zeitschrift zurück. Er trug das Blatt zusammengerollt in der Hand, sah S. mit abweisendem Gesichtsausdruck an, grüßte und verließ das Zimmer mit festen Schritten. Sie sprachen nie mehr über Konzentrationslager.
Über die Feststellung eines Abstands: Beschreibung des Soldaten Johan G., schwedischer Wehrpflichtiger und Wachsoldat im Lager von Ränneslätt. Wünscht ungenannt zu bleiben.
Johan G. sah von den Balten nicht sehr viel. Er hielt ihre Lage für nicht sehr dramatisch, er änderte seinen Standpunkt auch im November nicht. Erst als er Zeitungen las, während seiner Lagerzeit und auch später, bekam er das Gefühl, an einem interessanten Geschehen beteiligt zu sein. Er erinnert sich besonders gut daran, wie er nach der Lektüre der mit riesigen Schlagzeilen aufgemachten Zeitungsartikel (der letzten Novemberwoche, als die Proteste ihren Höhepunkt erreichten) sein Zelt verließ, sich vor den Stacheldrahtzaun stellte und in das Lager hineinblickte. Er konnte aber nicht viel erkennen, nur einige kleine Figuren, die sich in weitem Abstand bewegten. Die Zeitungen hatten sicher recht, er konnte sich aber nur schwer vorstellen, dass dies die gleiche Wirklichkeit sein sollte. »Alle Menschen sprachen über die Balten, und hier standen wir, um sie zu bewachen, und fühlten nichts als eine große Langeweile.« Seine Aufgabe bestand darin, einen bestimmten Abschnitt der Absperrung zu bewachen, manchmal stand er auch am Lagertor. Ein persönliches Verhältnis zu den Insassen hatte er selbstverständlich nicht. »Die konnten ja nicht Schwedisch sprechen.« Wenn ein Insasse versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, zog er einen Vorgesetzten hinzu, der die Unterhaltung übernahm. Das Verhältnis der einfachen Wachsoldaten zu den Internierten war äußerlich korrekt. »Wir hatten ja von den Konzentrationslagern und solchen Sachen gelesen und wollten denen mal zeigen, wie man sich korrekt verhält.«
Mitunter bestand seine Bewachungsaufgabe darin, dass er an Arbeitsplätzen außerhalb des Lagers auf Posten stand oder die Arbeit als Aufseher überwachte. Dabei war Johan G. häufig recht mulmig zumute. Die Internierten schwärmten aus, und G. wusste nicht, wie weit seine Befugnisse reichten. Es war gefährlich, die Leute zu hart anzufassen. »Es war ja bekannt, dass zumindest die Deutschen (die Balten vielleicht nicht) die schwedischen Offiziere auf ihrer Seite hatten.« Die Verbrüderung zwischen den Internierten und den schwedischen Offizieren bezeichnet er als bemerkenswert. »Sie machten Auto-Ausflüge, hockten ständig zusammen und lachten miteinander. Möchte gern wissen, was die abends immer zu quatschen hatten.« Beschreibt eingehend, wie einer der schwedischen Offiziere oft mit einem Korb mit belegten Broten unterm Arm durchs Lagertor ging und in der deutschen Offiziersbaracke verschwand. Nach einer Pause fügt er hinzu, dass es »besser sei, sich menschlich zu verhalten, als brutal zu sein«. Erzählt von der polizeilichen Untersuchung der Zustände im Lager, die ein Jahr später
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