Die Ausgelieferten
Untersuchers befand; der Brief war nämlich veröffentlicht worden.
F., der jetzt in Riga lebte, der verheiratet war und ein Kind hatte, der in einem staatlichen Betrieb eine ausgezeichnete Stellung bekleidete und ein Monatsgehalt hatte, das fast doppelt so hoch war wie das sowjetische Durchschnittseinkommen, hatte auf den Untersucher vorher einen fröhlichen und ruhigen Eindruck gemacht. Sie hatten eine Reihe sehr informeller Abende zusammen verbracht, die mit angeregten Gesprächen und Deutungen der Auslieferung, ihrer Hintergründe und ihrer Konsequenzen angefüllt gewesen waren, und dass F. diese Abschrift zu lesen bekam, war ein reiner Zufall.
Er las den Brief sorgfältig, und plötzlich wurde er sehr still und ruhig. Dann brach er zusammen, als hätte man ihm einen harten und heftigen Schlag versetzt, und begann zu schluchzen. Der Untersucher, der ihn als einen fröhlichen und sorglosen Menschen kennengelernt hatte, saß ihm gegenüber und fand keine Worte. F. weinte wie ein verlassenes Kind, er wollte nicht aufhören zu weinen, er zeigte nur mit einem kräftigen, stumpfen Finger auf den Text und sagte: »Mama. Mama.«
Sie hatten sich seit Herbst 1944 nicht gesehen. Sie lebte im Westen. Sie schrieben einander, aber bislang hatte sie es noch nicht gewagt, ihren Sohn in Lettland zu besuchen. Sie hatten sich lange nicht gesehen.
Nach etwa drei Minuten hatte F. sich wieder beruhigt. Er lächelte verlegen und schüttelte den Kopf. »Es kam so plötzlich«, sagte er. »Ich war nicht vorbereitet. Sie wohnte damals in Lübeck, wir schrieben einander und glaubten, uns bald wiedersehen zu können. Es wurde nichts daraus.«
Danach gingen sie in einem Rigaer Park lange spazieren, mitten in der Nacht. Es gab nicht mehr viel hinzuzufügen, und sie sprachen nie mehr über das Geschehene.
6
A m Nachmittag des 3. Juni 1945 hatte der Chef der provisorischen Verwaltungskommission für Internierungsfragen, Oberstleutnant Leuhusen, ein später zu den Geheimakten gelegtes Memorandum an einen Beamten des Außenministeriums übergeben; dies war eines der Aktenstücke, die dem Auslieferungsbeschluss zugrunde liegen sollten. Darin beschrieb er die allgemeine Lage der Internierten aus der Sicht der beteiligten schwedischen Behörden und äußerte ferner einen sehr nachdrücklichen Wunsch der Militärbehörden: dass ein eventueller Auslieferungsbeschluss unbedingt geheimgehalten werden müsse. »Dringt ein eventueller Auslieferungsbeschluss an die Öffentlichkeit, so besteht die große Gefahr, dass in den Lagern eine Panik ausbricht.«
In diesem Punkt wurde seiner Bitte entsprochen: der Beschluss wurde zur Geheimsache gemacht (und die Presse beschwerte sich später darüber, dass »die Öffentlichkeit skandalös schlecht informiert« worden sei). Der Beschluss wurde in der Öffentlichkeit nicht bekannt, und das muss man rückblickend als ein kleines Wunder ansehen. Die Zahl der Eingeweihten war ja sehr groß: unter ihnen befanden sich schließlich nicht nur Politiker und Militärs.
Zu den Leuten, denen der Beschluss zugänglich gemacht werden würde, gehörte auch der lettische Sozialdemokrat Bruno Kalnins, der in Riga im Gefängnis gesessen hatte, dann nach Stutthof transportiert worden war und sich in Riga und in Stutthof in der Nähe des lettischen Juristen Karlis Gailitis aufgehalten hatte, in der Nähe des Richters und Deutschenfreundes Gailitis, der jetzt einer der Führer der internierten Balten war. Anfang August erhielt Kalnins einen Brief von Eichfuss, der ihn aufforderte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um den Internierten zu helfen.
Kalnins beschloss, sein bisheriges Wissen zu vergessen, und trat eine »tour d’horizon« unter schwedischen Politikern an. Er hatte bessere Möglichkeiten als viele andere, mit ihnen zu sprechen, da er selbst Parlamentsabgeordneter in Lettland gewesen war und sein Vater zu den großen Männern der lettischen Sozialdemokratie gehört hatte.
Sein erster Gesprächspartner war Richard Lindström, ein Sozialdemokrat und alter Freund Lettlands, der ihm als erster einen Überblick über die Lage gab.
– Es gibt einen Regierungsbeschluss über die Auslieferung, berichtete Lindström, und niemand scheint geneigt zu sein, ihn wieder rückgängig zu machen, da es sich um einen Beschluss der Koalitionsregierung handelt, und die meisten scheinen standhaft bleiben zu wollen. Es lässt sich nicht viel machen. Wichtiger ist die Frage der dreißigtausend zivilen Balten, selbst für sie besteht
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