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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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nur am Stacheldraht herum. Es war recht trist.« Woher weiß er, dass sich Nazis im Lager befanden? »Das hat man mir gesagt. Es soll da einen Arzt gegeben haben, der in einem KZ den Häftlingen tödliche Injektionen gab.« Reaktion? »Tja nun, ich hab ihn ja nie gesehen.« Er sagt, er habe diese Zeit nie als moralisches Dilemma empfunden, und jeder Versuch, seine Rolle als Wachsoldat in moralische Kategorien einzuordnen oder ihn zu einem persönlichen Bekenntnis zu bringen, geht einfach unter. »Nein, für uns war das kein Dilemma, wir haben sie ja kaum gesehen.« Er glaubt, für die Mehrzahl der Wachsoldaten repräsentativ zu sein. »So war’s bei allen, wir langweilten uns und hatten Heimweh.«
    Die Probleme der Internierten gaben keinen Anlass zu näheren Überlegungen, »das war Sache der Politiker«.
    Eksjö bezeichnet er als ein tristes Nest. Sonst hat er nichts hinzuzufügen. Das Interview mit dem Wachsoldaten Johan G. stellt sich immer deutlicher als glatte Enttäuschung heraus.
    Hinterher begleitet er den Interviewer ein kurzes Stück auf dem Heimweg und geht zu einem Kiosk. Er kauft eine Schachtel Commerce mit Filter, Expressen und SE . Zweimal in der Woche spielt er Bowling. Er sagt, im allgemeinen denke er überhaupt nicht mehr an die Zeit in Ränneslätt.

4
    B ei der Ankunft im Lager hatten etwa zehn der Internierten seltsame Wunden an den Beinen gehabt, Erfrierungen, die sie sich durch feuchte Kälte im Winter an der Ostfront zugezogen hatten und die nicht heilen wollten. Hier bot sich eine ausgezeichnete Gelegenheit, ein schweizerisches Arzneimittel namens »Priscol« zu erproben, das sich als außerordentlich wirksam erwies. Für die schwedischen Lagerärzte war dies eine der wichtigsten Erfahrungen ihrer Lagerzeit – neben den Erfahrungen, die man mit der Wirkung langandauernden Hungerns auf den Organismus gemacht hatte –, und sie erstatteten der Obersten Medizinalbehörde sofort einen genauen Bericht.

5
    D er lettische Gefreite F. bekam die Adresse seiner Mutter erst Mitte September, als er im schwedischen Internierungslager Ränneslätt war. Die Mutter lebte jetzt in Deutschland, sie lebte. Er schickte ihr sofort eine kurze Nachricht: dass er sich in Schweden befand, in Sicherheit. Sie wohnte damals in Lübeck und erhielt den Brief am 28. September 1945. Sie hatte seit langem die Gewohnheit, an jedem Tag, an dem ein Schiff mit Auslandspost einlief, zum Hafen hinunterzugehen. Sie sah, wie die Postsäcke ausgeladen, auf Lastwagen geworfen und abtransportiert wurden; danach ging sie zum Postamt, um zu warten. Seit Beginn des Herbstes hatte sie in jeder Woche einen Tag auf der Post zugebracht. Nachdem die Post sortiert worden war, pflegte sie immer an den Schalter zu gehen, aber nie war etwas Besonderes für sie dabei.
    Am 28. September erhielt sie den Brief. Er war an sie gerichtet. Sie öffnete ihn sofort und las ihn. Dann ging sie auf die Straße, las den Brief noch einmal, um sich zu vergewissern, dass der Inhalt sich inzwischen nicht geändert hatte, dass ihr Sohn noch lebte, fiel auf dem Bürgersteig auf die Knie und weinte.
    In ihrem Antwortbrief beschreibt sie ihre Reaktion. »Was ich gefühlt habe, kann ich gar nicht wiedergeben. Ich bin Gott so unendlich dankbar, dass er mich dieses Glück hat erleben lassen.« Nach kurzer Zeit erhob sie sich wieder und ging nach Hause, zu ihrer Flüchtlingsbaracke, in der sie wohnte. Sie sagt, sie sei schnell gegangen.
    In ihrem Brief macht sie nicht den geringsten Versuch, das Lübeck des Herbstes 1945 näher zu beschreiben.
    In ihrem vom 1. Oktober 1945 datierten Antwortbrief äußert sie auch ihre Freude darüber, dass ihr Sohn lebt und dass sie ihn bald wiedersehen wird. »Ich glaube, Du wirst Dir meine Reaktion auf Deinen Brief gut vorstellen können, vielleicht lächelst Du darüber, dass Deinem Vater aber die Tränen über die Wangen liefen und dass er Deinen Brief nicht sofort lesen wollte, wirst Du vielleicht schon schwerer verstehen. Er hat ihn erst später im Nebenzimmer gelesen, als er allein war.«
    Der lettische Gefreite F. erhielt diesen Brief am 5. November, er befand sich noch immer in Ränneslätt und würde vor der Auslieferung noch mehrere Briefe an die Eltern in Deutschland schreiben. Aber er würde sie nicht wiedersehen.
    Als er Schweden verließ, ließ er auch die Briefe zurück. Im September 1967 bekam er zufällig eine Abschrift des Briefes seiner Mutter in die Hand, eine Abschrift, die sich im Besitz eines schwedischen

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