Die Ausgelieferten
Manchmal vielleicht. Kleine Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen.
– In welchen Einzelfragen?
– Als wir in der Regierung beschlossen, die Auslieferung zu verschieben, an einem Montag im November, wurden die Militärs wütend.
– Warum? Die Militärs waren doch gegen die Auslieferung?
– Sie wollten die Sache offenbar so schnell wie möglich hinter sich bringen. Der Aufschub bereitete dem Verteidigungsstab ziemliches Kopfzerbrechen. Die Initiative kam also von ziviler Seite, die ersten Konsultationen fanden mitten in der Nacht statt. Ich weiß noch, dass ich zu nachtschlafender Zeit geweckt wurde. Die Initiative kam also nicht von mir, es war Mossberg, der mich anrief.
Die Balten lagen alle in ihren Betten, als die Nachricht kam. Ein schwedischer Offizier betrat das Lager und verlas eine Mitteilung, die Auslieferung sei aufgeschoben worden. Es entstand ein Augenblick des Durcheinanders und der Freude. Dann trat wieder Ruhe ein.
Der Hungerstreik wurde jedoch nicht abgebrochen. Keiner hatte die Zusage gegeben, dass die Balten im Lande bleiben dürften.
Der exakte Ablauf des politischen Geschehens ist schwer zu beschreiben: die meisten Dokumente liegen bei den Geheimakten. An den Notenwechsel mit der Sowjetunion ist nicht heranzukommen. Hatte man Druck ausgeübt?
Auf jeden Fall wurde unterstellt oder angedeutet, dass Druck ausgeübt worden sei. Zwei Behauptungen traten immer wieder auf. Die erste war, dass Schweden die Balten ausliefere, um das große Handelsabkommen mit den Russen unter Dach und Fach zu bringen. Dazu lässt sich sagen, dass niemand , der Einsicht in die Zusammenhänge hatte, glaubte, dass dies der Fall war. Das Handelsabkommen wurde in den Gesprächen mit den Russen überhaupt nicht erwähnt. Auch Tatsachen scheinen gegen diese Unterstellung zu sprechen. Es waren immerhin die Russen , denen mehr am Zustandekommen dieser Vereinbarungen lag. »Hätten wir uns um das Handelsabkommen herumgedrückt, hätten sie uns das bestimmt sehr übelgenommen« (Wigforss). Es waren die Russen, die einen Milliardenkredit wollten, nicht die Schweden. Das Handelsabkommen wurde lange Zeit später, im Frühjahr 1946, unterzeichnet, und zwar gegen den skeptischen Widerstand einflussreicher schwedischer Kreise.
Die zweite Behauptung lautete, dass Schweden die Balten ausliefere, um aus Polen Kohle zu bekommen. Dieses Gerücht war weit verbreitet und fand allgemein Glauben.
Auch dieses Gerücht scheint jeder Grundlage zu entbehren. Es entstand, nachdem Handelsminister Gunnar Myrdal am 28. November, also während der Streikwoche in Ränneslätt, in einer Rede im Reichstag erwähnt hatte, dass es Polen schwerfalle, die vereinbarte Lieferung von einer Million Tonnen Kohle und zweihunderttausend Tonnen Koks zu erfüllen. Die polnische Regierung habe dies bedauert: man könne diese Menge zwar fördern, aber da die Bahnlinien entweder zerstört oder schwer beschädigt seien und Transportraum äußerst knapp sei, habe man weniger als berechnet liefern können und sei deshalb im Verzug.
Das Gerücht bemächtigte sich dieser Angaben, die Leute zählten zwei und zwei zusammen und begriffen. Die Balten sollten gegen Kohle aus Polen verkauft werden.
Der Untersucher verfolgte diese Spur lange Zeit, sie schien ihm äußerst anwendbar und interessant zu sein. Leider war sie eine falsche Fährte, eine Sackgasse. Es gab andere Rücksichten und andere Motive, nur nicht diese zwei: das Handelsabkommen und die polnische Kohle. Das war doppelt schade, da dieser Aspekt der Auslieferung der Balten so aktuelle Bezüge hatte: etwa Mitte der sechziger Jahre, als den schwedischen Demonstranten gegen die Politik der USA empfohlen wurde, sie sollten den Mund halten, um den Handel mit den Amerikanern nicht zu gefährden. Als Fulbright nach Stockholm gekommen war und gesagt hatte, dass »die kleinen Länder ihre Fähigkeit, auf die Ereignisse in der Welt Einfluss zu nehmen, oft unterschätzen. Furcht vor Repressalien der großen Länder ist oft einer der Gründe dafür. Die letzten Jahre aber haben viele Beispiele kleinerer Länder gebracht, die ihren eigenen Weg gegangen sind oder sich den Großmächten sogar widersetzt haben, ohne dass es ernste Folgen gehabt hätte« ; und dieses Problem, nämlich exakt festzustellen, was moralische Freiheit kostet und kosten darf, beschäftigte den Untersucher sehr, aber die Fährte war und blieb falsch.
Dennoch: in jeder Hinsicht schien diese Auslieferung voller moralischer Konflikte gewesen zu
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