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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Tod angedroht worden sei, die russische Gerechtigkeit kam zur Sprache, es wurde auch gesagt, dass es formell unmöglich sei, von dem Juni-Beschluss abzurücken; andere wiederum sagten, dieser Beschluss sei nur eine Rahmen-Absprache, die einschneidende Abänderungen durchaus zulasse. Ein Redner meinte, die Auslieferung sei eine Vergewaltigung des Asylrechts, und der nächste wiederum meinte, das Asylrecht sei hier nicht anwendbar.
    Den Berichten über die Debatte wurde in den Zeitungen breiter Raum gewidmet. Die Debatte selbst hinterließ viele offene Fragen und große Unklarheit.
    Die Debatte im Reichstag hatte am Freitag stattgefunden. Während des Sonnabends und des Sonntags konferierten die führenden Politiker ununterbrochen; es kam auch zu Kontakten zwischen Regierung und Opposition. Während der Reichstagssitzung hatte kein Parteiführer der Opposition das Wort ergriffen, ihr Schweigen war beredt gewesen, noch war die Balten-Frage nicht zu einem Bestandteil des Parteienhaders geworden. Das schien auch unmöglich, da außer den Kommunisten alle politischen Parteien für den Beschluss mitverantwortlich gewesen waren, und es war kaum zu erwarten, dass die Kommunisten gegen die Auslieferung opponieren würden. Außerhalb des Reichstags aber traten die parteipolitischen Linien in der Balten-Frage immer deutlicher zutage, und wenn man die Zeitungen las, schien die Sache klar zu sein: dass es einen Kampf zwischen Regierung und Opposition geben würde.
    Der Hungerstreik brachte eine Zuspitzung der Ereignisse und schien das politische Verfahren abzukürzen. Undén wurde immer härter bedrängt, und es wurde offenkundig, dass bald irgend etwas geschehen musste.
    Einige der Gesprächspartner Östen Undéns aus jenen Tagen erinnern sich gut an seine völlig zwiespältige Einstellung. Er ließ sich oft auf lange Gespräche ein, erregte sich heftig über jeden Versuch, die Russen als Barbaren abzustempeln oder als unmenschlich; er schien fast automatisch in Abwehrstellung zu gehen, wenn Gegner der Auslieferung das entsetzliche Schicksal zu beschreiben versuchten, dem die Balten entgegengingen. Dann regte er sich jedesmal furchtbar auf: »Warum können wir den Russen kein Vertrauen entgegenbringen? Haben sie uns denn etwas Böses angetan? Wozu dieses Misstrauen?«
    Zugleich sahen sie, wie sehr er litt. Er murmelte oft vor sich hin »die Sache verschleppen«, mitunter meinte er, die Frage würde sich auf dem »Lazarettwege« lösen lassen, und lauschte aufmerksam jedem neuen Vorschlag.
    Zugleich blieb aber der Beschluss vom 15. Juni bestehen. Bis zuletzt schien Undén abgeneigt zu sein, ihn umzustoßen.
    Irgendeine Form des Aufschubs war dennoch notwendig, und man fand einen Ausweg.
    Am 26. November gegen 6 Uhr morgens wurde die Regierung zu einer Sondersitzung zusammengerufen: man telefonierte herum und bekam alle Mitglieder zusammen, außer Gjöres, der sich draußen im Lande befand, um Reden zu halten. Die Sitzung wurde für 11 Uhr anberaumt. Unmittelbar danach begab sich die Regierung ins Schloss, wo eine weitere Sonderkonferenz abgehalten wurde. Der Kronrat schien nur etwa zehn Minuten getagt zu haben. Im Schloss wurde vor allem die Frage erörtert, ob es unter den internierten Balten auch Zivilisten gebe, und man kam zu dem Ergebnis, dass eine Untersuchung sofort eingeleitet werden müsse.
    Gegen 12 Uhr mittags war die Sitzung des Kronrats beendet, worauf man die Kabinettssitzung wieder fortsetzte, die gegen 13 Uhr zu Ende war. Unmittelbar darauf wurde der Oberbefehlshaber, General Jung, zum Ministerpräsidenten gerufen. Er kam um 14 Uhr und verließ den Ministerpräsidenten um 14.45 Uhr. Es war offensichtlich ein Beschluss gefasst worden, und es wurde bald klar, worauf er hinauslief. Am 26. November gegen 15 Uhr, am selben Tag, an dem die Kabinettssitzung stattgefunden hatte, teilte der Verteidigungsstab in einem Blitztelegramm an die verschiedenen Lagerkommandanten mit, dass »die Abreise der Internierten aus transporttechnischen Gründen bis auf weiteres aufgeschoben ist, was den Internierten unverzüglich mitgeteilt werden muss«.
    Undén selbst ist heute nicht gewillt, die Gründe für den Aufschub mitzuteilen: »Wir waren der Meinung, dass Zeit gewonnen werden musste.« Später erwähnt er beiläufig, und zwar als Antwort auf eine ganz andere Frage, dass der Beschluss zumindest für einige überraschend gekommen sei.
    – Wie war das Verhältnis zwischen Regierung und Armee? Gespannt? Gab es Kontroversen?
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