Die Ausgesetzten
die eigentlichen Kolonisten von Roanoke bewogen hat, alles Vertraute hinter sich
zu lassen und sich an einem völlig unbekannten Ort eine neue Heimat zu erschaffen. Einige Historiker nehmen an, dass sich
mehrere oder alle Kolonisten von der Church of England abspalten und ihre eigene Religion praktizieren wollten, wie die Pilgerväter,
die sich dreiunddreißig Jahre später in Massachusetts niederließen. Andere vermuten, dass die finanziellen Anreize vielleicht
wichtiger waren: Jeder männliche Siedler sollte zweihundert Hektar Land erhalten.
Eines der Dinge, die ich vergessen (oder vielleicht nie gewusst) habe, war, dass es mehrere Probeläufe gab, ehe John White,
die Dares und mehr als einhundert weitere Männer, Frauen und Kinder Ende Juli 1587 auf der Insel Roanoke auftauchten. Seit
dem Jahr 1584 hatten sich immer wieder verschiedene Gruppen (ausschließlich männlicher) Entdecker und Soldaten auf der Insel
niedergelassen. Und alle diese Probeläufe endeten aus unterschiedlichen Gründen in Katastrophen und legten den Grundstein
für weitere Desaster. Ungeachtet der Tatsache, dass eine große Dürre herrschte und die eigentlichen Inselbewohner selbst kaum
genug zu essen hatten, erwarteten die Engländer von den Ureinwohnern, sie mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Dabei verhielten
sich die Engländer den Indianern gegenüber fast schizophren, indem sie sich abwechselnd mit ihren neuen Nachbarn anfreundeten
oder sie töteten. Auf den puren Verdacht hin, ein Indianer könnte einen silbernen Abendmahlbecher gestohlen haben, brannten
sie ein ganzes Dorf nieder und zerstörten die Maisernte der Bewohner. Späterstahlen und aßen sie die Hunde anderer Indianer. Außerdem entführten sie den kleinen Sohn eines berühmten indianischen Anführers.
Nichts von alldem war dazu angetan, die Engländer den Ureinwohnern sonderlich sympathisch zu machen. Als Virginia Dares Eltern
und die anderen Kolonisten im Sommer des Jahres 1587 auf Roanoke eintrafen, gingen sie davon aus, dort fünfzehn Soldaten vorzufinden,
die als Bewachung eines englischen Forts zurückgelassen worden waren. Stattdessen entdeckten sie das Skelett eines vermutlich
von Indianern getöteten Soldaten. Was aus den anderen vierzehn Männern wurde, weiß niemand.
Diese erste Entdeckung muss sehr entmutigend gewesen sein, doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Sechs Tage nach ihrer
Ankunft wurde einer der Kolonisten, George Howe, von Indianern getötet, während er allein nach Krebsen suchte. Er hinterließ
einen kleinen Sohn, der nun Waise war. Als die Kolonisten beschlossen sich für den Mord an Howe zu rächen und ein nahe gelegenes
Indianerdorf angriffen, stellten sie mitten im Kampf fest, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten: In dem Dorf lebten
Menschen, die den Engländern freundlich gesonnen und keineswegs ihre Feinde waren, wie sie geglaubt hatten.
Erstaunlicherweise scheinen die Indianer bereit gewesen zu sein, über diesen »Fehler« hinwegzusehen. Trotzdem hatten die Kolonisten
von Roanoke noch mehr als genug andere Probleme. Aus verschiedenen Gründen hatten sie es versäumt, sich auf dem Weg nach Amerika
mit den nötigen Vorräten einzudecken, und das galt auch für Nahrungsmittel. Da die Kapitäne der Schiffe, mit denen sie übersetzten,
bestrebt waren, den Großteil der Segelsaison mit dem Kapern fremder Schiffe zuzubringen – ein wiederkehrendes Thema in der
Geschichte der Engländer auf Roanoke –, trafen die Kolonisten erst im Spätsommer auf der Insel ein; zu spät, um noch irgendetwas anzupflanzen. Und schließlich
war eines der Dinge, das die Engländer aus den vorangegangenen Probeläufen gelernt hatten, die Tatsache, dass die Insel Roanoke
im Grunde ein lausiger Ort und wenig geeignet war, um sich dort niederzulassen. Daher hatten die Kolonisten vor, sich dieses
Mal weiter nördlich anzusiedeln, im Gebiet der Chesapeake Bay. Doch Simon Fernandez, der Kapitän und Lotse ihrer Schiffe,
weigerte sich, so wird berichtet, sie an einen anderen Ort zu bringen. Viele der Spekulationen um das Schicksal der Kolonie
von Roanoke ranken sich um diesen Mann. HatFernandez die Kolonie mit Absicht sabotiert? Falls ja, wer gab ihm den Auftrag dazu? Und warum? Stand er insgeheim im Dienst
der Spanier? Oder wurde er von einem Feind Raleighs am englischen Hof bestochen?
Oder hat man Fernandez’ Absichten schlicht und einfach missverstanden, weil seine Version der Geschichte nie
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