Die Ausgesetzten
wandte sich von seinem Marker ab. »Hier sind gar keine Skelette!«
Jonas sah hinein – es war nur eine leere Hütte.
Auch die nächste Hütte war leer, ebenso wie die dritte und die vierte. Dann kamen sie zu einem andersgearteten Gebäude, an
dessen Wänden sich eine Art Holzgerüst entlangzog. In Tierfelle gehüllte längliche Bündel lagen auf sämtlichen Ebenen des
Gerüsts. Konnten diese Bündel Skelette sein?
John Whites Marker nickte, als habe er verstanden. Doch er wirkte nicht erschüttert. Er öffnete den Mund und sagte etwas.
Jonas wünschte inständig verstehen zu können, was der Marker sagte. Doch ohne den echten John White blieb sein Marker natürlich
vollkommen lautlos.
»Oh, wie merkwürdig! Jetzt spricht er Englisch und mein Marker kann ihn nicht verstehen. Aber
ich
verstehe, was mein Marker hört«, berichtete Brendan. »John White sagt, er kennt den Tempel der Bewohner von Croatoan, in dem
sie die Leiber ihrer verstorbenen Anführer aufbewahren. Das hat er schon in anderen Dörfern, auf früheren Reisen nach Amerika,
gesehen. Er sagt, das Gleiche würden sie auch in England machen, wo sie die bedeutenden Toten in Kathedralen in Krypten legen.«
Jonas war in einer solchen Krypta gewesen. Im fünfzehnten Jahrhundert, auf seiner letzten Reise durch die Zeit. Und dieser
Dorftempel erschien ihm nicht unheimlicher als diese.
Sie verließen den Tempel und Jonas, Katherine und Andrea liefen voraus, um Antonio und Brendan nicht davon abzuhalten, mit
ihren Markern zusammenzubleiben. Die beiden Jungen führten John Whites Marker auf ein offenes Feld.
»Das hier ist die Begräbnisstätte für die anderen Toten«, sagte Antonio und sprach durch seinen Marker.
John White sagte etwas, das Brendan übersetzte: »Er fragt: ›Viele, viele Generationen?‹«
»Nein«, erklärte ihm Antonio. »Viele starben auf einmal.«
Der Kummer, der sein Gesicht überschattete, verriet Jonas, dass John White verstand.
»Aber einige haben überlebt«, sagte Antonio. »Sie haben überlebt und ihre Toten begraben, ehe sie fortgingen.«
Wieder sagte John Whites Marker etwas und Jonas konnte sich auch ohne Brendans Übersetzung denken, was es war: »Wohin sind
sie gegangen?«
Antonio zuckte die Achseln.
»Das wissen wir nicht«, sagte er sanft. »Niemand weiß es. Bis jetzt wussten wir nicht einmal, dass jemand überlebt hat.«
John Whites Marker wandte sich ab. Seine Miene war traurig und nachdenklich, aber nicht hoffnungslos. Er sprach.
»Er sagt: ›Meine Suche geht weiter. Ich wusste, dass es nicht leicht wird‹«, flüsterte Brendan.
Andrea gab einen kleinen Laut von sich. Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie nickte.
Auch sie hatte immer noch Hoffnung.
Während sich die anderen wieder dem Dorf zuwandten, wanderte Jonas ein wenig weiter auf das Feld hinaus.
Auch nicht anders als ein Friedhof, dachte er. Nur ohne gruselige Grabsteine mit Namen und so. Vielleicht war es den Indianern
nicht so wichtig, wie man sich an sie erinnert?
Die Sonne schien Jonas auf den Kopf; hohes Gras wogte im heißen Sommerwind. Ohne die menschlichen Skeletthaufen, mit denen
Jonas gerechnet hatte, war dieser Teil der Insel Croatoan überhaupt nicht schrecklich. Er war … friedlich. Jonas wusste, dass der Tod hier zugeschlagen hatte – viele, viele Male –, doch das war lange her. Die Leichen, die an diesem Ort begraben lagen, ruhten schon seit Jahren friedlich in der Erde.
Oder etwa nicht?
Ein Grabhügel am Ende des Feldes fiel Jonas ins Auge. Der Boden enthielt hier mehr Sand als Erde, und wer immer diesen Hügel
aufgeworfen hatte, hatte ihn ordentlich festklopfen müssen, damit er nicht abrutschte.
Jonas dachte an Sandburgen am Strand und dass diejenigen, die man am Anfang der Ferien baute, gegen Ende der Woche bereits
wieder zerfielen. Konnte ein Grabhügel aus Sand, der schon vor Jahren errichtet worden war, immer noch so kompakt aussehen?
Nein, kann er nicht, dachte Jonas.
Er starrte auf den Hügel vor sich und versuchte aus den Sandkörnern zu lesen. Sie waren wirklich fest zusammengepackt. Nichts
war zerfallen.
Bedeutete das nicht, dass zumindest dieses Grab … frisch war?
Sechsunddreißig
Jonas wirbelte herum und rannte zu den anderen zurück.
»He, Leute!«, sagte er. »Das müsst ihr euch ansehen!«
Er beschloss ihnen nicht zu sagen, was er herausgefunden hatte; er würde warten, welche Schlüsse sie zogen, sobald sie es
gesehen hatten.
»Psst«, zischte Katherine.
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