Die Ausgesetzten
angehalten.
»Das sind keine Menschenknochen«, sagte sie. »Ich dachte schon, sie stammen von Menschen!«
Jonas blinzelte. Er verstand, warum Katherine das gedacht hatte. Fast wäre es ihm ebenso ergangen. Trotzdem fühlte er sich
keineswegs erleichtert, als seine Augen ihm bestätigten, dass dort nur Tierkadaver vorihnen lagen: Schädel und Rumpfskelette, die von Rehen, Füchsen, Wölfen und Bibern stammen mussten, aber nicht von Menschen.
Die Knochen waren so zahlreich, dass sie zu flüstern schienen:
Tod , Tod , alle tot …
»Das ist so abartig«, sagte Brendan mit belegter Stimme. »Ein Gräuel.«
»Eine Schändung«, sagte Antonio.
Jonas vermutete, dass sie zu Algonkin übergewechselt waren, um das zu sagen, weil die englischen Worte vielleicht nicht stark
genug waren.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Katherine. »Ihr habt doch selbst schon Tiere getötet. Eure Marker, meine ich damit. Und nicht
nur Fische. Wir haben gesehen, wie die Marker auf Roanoke das Reh geschossen haben. Sie … sie haben es geschlachtet.«
»Nachdem sie es um Erlaubnis gebeten haben«, sagte Brendan.
»Hör auf es erklären zu wollen«, sagte Antonio barsch. »Sie werden es doch nicht verstehen!«
»Nein, ich muss das erklären«, erwiderte Brendan. Er sah Katherine in die Augen. »Unser Stamm sieht sich im Einklang mit der
Natur. Wenn wir ein Leben nehmen, tun wir das mit Respekt. Auch die Tiere behandeln wir so, selbst im Tod.« Er machte ein
bedauerndes Gesicht. »Egal wie es für euch ausgesehen haben mag, wir sind keine Wilden.«
»Die Weißen sind die Wilden!«, sagte Antonio. »Die Art, wie sie töten, ohne jeden Respekt …«
»Du bist auch ein Weißer, Antonio!«, sagte Jonas, der es nicht länger aushielt.
»Das habe ich aufgegeben«, sagte Antonio mit todernstem Gesicht. »Ich bin jetzt ein Stammesmensch.«
Und plötzlich wusste Jonas nichts mehr zu sagen. Es war offensichtlich, dass es Antonio nicht um die Hautfarbe ging, sondern
um die Denkart, die Einstellung zum Leben.
»Also haben Europäer das getan?«, fragte Katherine verwirrt. Sie wies mit der Hand auf die Skelette, die das Ufer säumten.
»Waren es die Engländer? Die Spanier? Oder …«
»Ja und nein«, sagte Brendan.
»Meine Leute sind dafür verantwortlich«, sagte Andrea gequält. »Die Kolonisten von Roanoke. Wir haben den Tod mitgebracht,
als wir kamen. Seuchen. Ich habe alles über die Krankheiten gelesen, aber mir war nicht klar …«
Jonas hatte sich so sehr auf die vor ihm liegende Szenerie konzentriert, dass er Andrea fast vergessen hatte. Sie hatte so
still dagesessen. Selbst jetzt sah sie aus wie eine Statue: Ihr Gesicht war ganz bleich unter dem Sonnenbrand und in ihren
Augen brannte der Schmerz. Jonas verstand nichts von Kunst und er dachte auch nicht oft darüber nach, doch er konnte sich
vorstellen, dass jemand in diesem Moment eine Skulptur nach ihr fertigen würde.
Und sie würde den Titel tragen:
Am Boden zerstört
.
»Ihr meint, die Kolonisten von Roanoke haben eine Seuche eingeschleppt, eine Krankheit, die alle diese Tiere umgebracht hat?«,
fragte Katherine, die immer noch verwirrt klang.
»Nein, ihre Krankheiten haben Menschen getötet«, sagte Brendan. »Massen von Menschen. In manchen Dörfern sind so viele gestorben,
dass die Überlebenden geflohen sind und die Leichen einfach an Ort und Stelle zurückgelassen haben.«
»Das ist für uns Stammesmenschen eine schreckliche Sünde«, erklärte Antonio. »Ein Sakrileg.«
»Unsere Marker vermeiden diese Dörfer«, sagte Brendan. »Sie glauben, dass die bösen Geister sich dort noch aufhalten.«
Jonas fiel auf, dass Antonio Brendan diesmal nicht korrigierte, als er die Bazillen
böse Geister
nannte.
»Aber der schlimmste Ort von allen ist hier auf Croatoan«, fuhr Brendan fort. »Als die Menschen starben, legten sie die Tierkadaver
an den Strand, um Reisende abzuschrecken und sie vor dem Bösen zu warnen. Denn Tiere so zu behandeln ist ebenfalls böse.«
Er zeigte auf die Skelette, die endlosen Reihen der Toten.
»Wenn die Menschen alle gestorben sind, dann sind ihre Gebeine auch noch hier, nicht?«, fragte Katherine entsetzt.
Brendan zuckte hilflos die Schultern.
»Unsere Marker glauben das«, sagte er.
»Lasst meinen Großvater das nicht sehen«, entfuhr es Andrea. »Bitte, ich flehe euch an, lasst nicht zu, dass eure Marker ihm
zeigen, was hier passiert ist.«
An die Marker hatte Jonas gar nicht mehr gedacht. Es
Weitere Kostenlose Bücher