Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
mehrere Tage, ehe er sich wieder so weit beruhigt hatte, dass er sein Quartier an der Universität beziehen durfte. Ein paar Leute hatten schon spekuliert, dass die Prüfer vorhätten, einen der durchgefallenen Kandidaten zurückzuholen, um Will auszutauschen. Aber er kehrte zurück, und ich bin froh darüber.
Jetzt gibt mir Will einen zweiten Kuss auf die andere Wange, und als Tomas protestiert, lacht er. »Dein Freund ist eifersüchtig, dass wir ein Team für die Stadterkundung bilden. Ich persönlich denke ja, dass wir alle dich nicht verdient haben, Cia, aber was weiß ich denn schon?«
Wills Worte kommen mir vertraut vor. Ich merke, wie ich – keineswegs zum ersten Mal – den Kopf schräg lege und vergeblich versuche, mich an etwas zu erinnern, was in greifbarer Nähe zu liegen scheint.
Tomas sagt zu Will, er sähe keinen Anlass, eifersüchtig zu sein. Andere Kandidaten stoßen zu uns. Ein großer schweigsamer Junge namens Brick überreicht mir Blumen. Dann wendet sich das Gespräch der kommenden Orientierungsphase zu. Ehe die Kurse beginnen, werden alle Studenten vier Wochen damit verbringen, die Offiziellen von Tosu-Stadt und Abgesandte aus allen Kolonien zu treffen. Wir werden uns auch in der Stadt umsehen, die in den nächsten Jahren unser Zuhause sein wird. Die Studenten sind für ihre Treffen und Touren in Zweiergruppen eingeteilt worden. Dass Will und ich zusammengesteckt wurden, passt Tomas gar nicht. Nicht, weil er glaubt, zwischen uns könnte sich eine Romanze entspinnen. Tomas kommt mit den meisten anderen Studenten in unserem Jahrgang gut aus, aber Will scheint ihm gegen den Strich zu gehen. Ich hoffe, dass die beiden ihre Antipathie in den vor uns liegenden Wochen und Monaten verlieren werden.
Jemand holt ein Solar-Radio, und dann beginnt der Tanz. Selbst Dr. Barnes schiebt sich ins Getümmel und wirbelt eine der Prüferinnen herum, die er uns, ehe die beiden die Feier verlassen, als seine Frau vorstellt.
Kurz bevor die Sonne untergeht, tun mir die Füße vom Tanzen weh, und ich habe viel zu viel Geburtstagskuchen gegessen. Ich überlege, ob ich zurück in mein Apartment gehen soll, als ich etwas abseits eine vertraute Gestalt an einen Baum gelehnt stehen sehe. Ich sage Tomas Bescheid, dass ich gleich wieder da bin, und gehe über den Hof zu einem der Offiziellen aus Tosu-Stadt, Michal Gallen.
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Bist du schon die ganze Zeit hier?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Ich habe gedacht, es wäre am besten, wenn ich warte, bis einige der Gäste nach Hause aufgebrochen sind. Ansonsten hätte ich gar keine Chance gehabt, in Ruhe ein paar Worte mit dir zu wechseln. Ich gratuliere dir zu deinem Erfolg bei der Auslese. Nicht dass mich das überrascht hat. Du bist klug und stark. Ich wusste, dass du es schaffen würdest.«
Wieder habe ich das quälende Gefühl, als hätte ich das schon mal gehört. Aber als ich versuche, die Erinnerung zu fassen zu bekommen, entgleitet sie mir und verflüchtigt sich.
»Was ist los?«
Ich winke ab. »Nichts. Ich hätte nur schwören können, dass du das schon mal zu mir gesagt hast. Sonderbar, nicht wahr?«
Michal lächelt, widerspricht jedoch nicht. Stattdessen sagt er: »Ich habe dir etwas mitgebracht.« Er zieht ein Päckchen aus der Tasche hinter seinem Rücken und überreicht es mir. Als ich es auswickeln will, schüttelt er den Kopf.
»Warum wartest du damit nicht, bis du allein bist? Ansonsten bekommen wir noch beide Schwierigkeiten. In den Statuten der Universität ist festgelegt, dass die Studenten möglichst wenig mit ihren Familien zu tun haben sollen, aber ich konnte nichts Schlimmes daran finden, dir dies hier mitzubringen.«
Meine Familie. Ich drehe verwundert das Geschenk in meinen Händen hin und her. »Wie kommt das denn? Hat meine Familie zu dir Kontakt aufgenommen?«
»Ich hatte letzte Woche etwas in der Madison-Kolonie zu erledigen und habe erfahren, dass dein Vater dort ebenfalls einige Leute treffen wollte. Also habe ich beschlossen, mich bei ihm zu melden. Er hat mich gebeten, ein Geschenk deiner Familie mitzunehmen.«
Seine Worte sind freundlich. Ein netter Kerl, der einem Mädchen, das weit weg von zu Hause ist, einen Gefallen tut. Aber einige Augenblicke zuvor hat er nicht abgestritten, dass er zu einem früheren Zeitpunkt Dinge zu mir gesagt hat, an die ich mich nun nicht mehr erinnere. Ich halte das Geschenk in den Händen und weiß, dass es gerade um mehr geht, als es den Anschein hat.
Einen Moment
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