Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
Hügel hinauf und schließen uns den Feierlichkeiten auf der anderen Seite an. Ich lächele, aber tief in meinem Herzen befürchte ich, mein Dad ist schon immer davon ausgegangen, dass ich mit seinen Errungenschaften und Erfolgen niemals würde mithalten können und dass ich mich in jedem Fall als Enttäuschung erweisen würde.
Weil sich die Kolonie über so viele Meilen erstreckt, ist dies eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen alle in Five Lakes Ansässigen zusammenkommen. Hin und wieder gibt es Nachrichten aus der Führungsriege unseres Landes, die alle zu hören bekommen müssen, aber dies ist nur selten der Fall. Mit knapp über neunhundert Bewohnern gehört unsere Kolonie zu den kleinsten, und sie liegt mit am weitesten von Tosu-Stadt entfernt, wo sich die Regierung des Vereinigten Commonwealth befindet. Uns wird hier nur wenig Aufmerksamkeit zuteil, was den meisten von uns ganz gelegen kommt. Wir finden uns sehr gut auch allein zurecht. Man meidet zwar niemanden von außerhalb, aber keiner wird unbedingt mit offenen Armen empfangen. Wer dazustößt, muss uns erst davon überzeugen, dass er von jetzt ab zu uns gehört.
Der Marktplatz ist recht groß, doch die vielen Menschen in ihrer schönsten Festkleidung lassen ihn klein wirken. Geschäfte, die Kerzen, Backwaren, Schuhe und alle Arten von Haushaltsgegenständen verkaufen, säumen den Platz. Wenn die Abschlussfeier anfängt, werden die Läden schließen, aber nun machen sie blendenden Umsatz; denn die Kolonie-Bewohner, die selten in die Stadt kommen, nutzen die Gelegenheit, wichtige Güter zu kaufen oder gegen andere Waren einzutauschen. Die Münzen des Vereinigten Commonwealth sind hier als Zahlungsmittel kaum verbreitet, und nur die wenigen Leute, die wie Dad für die Regierung arbeiten, benutzen sie.
»Cia!« Eine winkende Hand erregt meine Aufmerksamkeit; sie gehört meiner besten Freundin Daileen, die sich durch die Menge schiebt. Ihre blonden Locken und ihr rosa Kleid wippen, während sie den kleinen Grüppchen von Festtagsteilnehmern ausweicht, die plaudernd beisammenstehen. Mit den Fingern einer Hand umklammert sie eine Waffel mit rasch schmelzender rosa Eiscreme. Daileen schließt mich fest in die Arme, drückt mich und fragt mit beinahe bebender Stimme: »Kannst du es fassen, dass das heute deine Abschlussfeier ist? Das ist so aufregend. Es gibt sogar Eiscreme umsonst.«
Ich erwidere ihre Umarmung und versuche dabei zu verhindern, dass das Eis auf mein Kleid tropft. Meine Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn ich noch vor Beginn der eigentlichen Feier Flecken auf meiner nagelneuen Tunika hätte. »Aufregend und beängstigend. Vergiss nicht den beängstigenden Teil.«
Daileen ist die Einzige, der ich davon erzählt habe, wie viel Sorge vor der Zukunft ich habe, falls ich nicht Finalistin bei der Auslese werde. Sie vergewissert sich, dass niemand uns zuhört, und sagt: »Mein Vater hat gehört, dass heute ein ganz besonderer Gast dabei sein wird, der angeblich eine Rede halten will.«
Am Tag der Abschlussfeier werden immer viele Reden gehalten. Unsere Lehrer werden ein paar Worte sagen, ebenso wie die Magistratin und eine ganze Anzahl von anderen wichtigen Personen aus Five Lakes. Wenn die ganze Kolonie beisammen ist, dann gibt es genug, was besprochen werden muss. Also klingt der »besondere Gast« in meinen Ohren gar nicht so besonders, bis Daileen hinzufügt: »Mein Vater sagt, einer der Gäste ist extra aus Tosu-Stadt angereist.«
Das wiederum macht mich hellhörig. »Es ist jemand aus Tosu hier?« Das letzte Mal, dass Offizielle aus Tosu nach Five Lakes gekommen sind, war vor drei Jahren, als unser alter Magistrat verstorben war. Damals waren zwei Männer und eine Frau in die Kolonie gereist, um einen neuen Verantwortlichen zu bestimmen. Meistens jedoch kommuniziert Tosu-Stadt mithilfe schriftlicher Mitteilungen oder Telefonanrufe bei unserer jetzigen Magistratin.
»Das hat mein Vater gehört.« Daileen leckt sich geschmolzene Eiscreme vom Handrücken. »Dad glaubt, dass er hier ist, um einen Prüfling abzuholen. Vielleicht wirst du das ja sein.« Einen Augenblick lang ist ihr Lächeln verschwunden. »Ich werde dich wirklich vermissen.«
Daileen und ich sind beinahe gleich alt; uns trennen nur zwei Wochen, und seit unserem dritten Lebensjahr sind wir beste Freundinnen. Daileens Eltern haben sie im vorgeschriebenen Alter von sechs Jahren zur Schule geschickt. Meine Eltern hingegen hatten sich entschieden, mich schon mit fünf
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