Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
sich einen Feigling.
Vier Wochen war es nun her, dass sie aus Valparaiso ausgelaufen waren. Immer noch ging es nur langsam voran. Inzwischen war es Mitte August und Emilia merkte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Eines Nachts konnte sie nicht einschlafen. Die Hundswache hatte ihren Dienst beendet, die Schiffsglocke hatte geschlagen. Der erste Steuermann Wölsch hatte Dienst an Deck. Carl schlief seit dem letzten Wachwechsel. Sollte sich nichts ereignen, würde er bis zum Morgen nicht gestört werden. Leise kletterte Emilia aus dem Bett, zog sich warme Strümpfe an und legte den Mantel über, dann ging sie an Deck.
»Ma’m?«, fragte Wölsch überrascht. »Geht es Euch nicht gut?«
»Ich wollte nur ein wenig Luft schnappen. Ich kann nicht schlafen.«
Wölsch nickte. Dichter Nebel lag über der ruhigen See.
»Ich habe das Buch gelesen, das Ihr mir geliehen habt«, sagte er leise. »Emilia Galotti. Hat das tatsächlich der Onkel unseres Kapitäns geschrieben?«
»Der Großonkel.«
»Und er hat es nach Euch benannt?«
Emilia lachte. »Das Buch wurde geschrieben, lange bevor ich zur Welt kam.«
»Ich dachte nur«, brummte Wölsch, »wegen des Namens.«
»Das ist ein Zufall.« Emilia lehnte sich an das Schanzkleid und sog die kühle Luft tief ein. Der typische Geruch von Meer und Salz umgab sie. Als sie in Landnähe gekommen waren, hatte Emilia gemeint, die Erde und die Pflanzen schon von weitem riechen zu können. Sie sehnte sich danach.
Plötzlich platschte es an der Bordwand, das Wasser hob sich. Sie hörte ein Schnauben und Grunzen.
»Ein Wal«, zischte Wölsch. »Er ist direkt neben dem Schiff.«
Von einem Moment zum anderen roch es ganz anders, sumpfig irgendwie und nach Tran. Emilia blieb wie erstarrt stehen. Das Tier blies, dann tauchte es wieder ab. Ein wenig entfernt hörte sie kurz darauf ein lautes Platschen.
»Das sind Buckelwale. Sie folgen der Strömung und schwimmen nordwärts nach Kalifornien. Dort gibt es ein Gebiet, in dem sie ihre Jungen zur Welt bringen, habe ich gehört.« Wölsch schaute nach oben, aber der Nachthimmel war verhangen.
»Es wird Zeit, dass Wind aufkommt, nicht wahr?« Emilia ging zu ihm.
»Höchste Zeit. So eine Flaute habe ich hier noch nicht erlebt. Es ist wirklich grausig.« Er seufzte. »Auf manch anderem Schiff hätten wir jetzt Probleme mit der Mannschaft.«
»Wieso?«
Wölsch lachte leise. »Weil eine Frau an Bord ist. Versteht das nicht falsch, Ma’m. Die Seeleute sind abergläubisch. Ich weiß, dass englische Matrosen niemals einen Albatros essen würden. In ihnen, so sagt es ein Mythos, wohnen die Seelen der verstorbenen Seemänner.«
»Aber … wir haben doch schon mehrfach Albatrosse gegessen.«
»Ja. Weil unsere Mannschaft deutsch ist. Bis auf McPhail und Palmer. Aber die wollten auch lieber satt werden, als zu hungern.« Wölsch lachte leise. »Überhaupt ist diese Mannschaft anders oder diese Fahrt. Ich glaube, das liegt daran, dass Ihr an Bord seid.«
Emilia schluckte. Wie meinte er das?
»Eine Frau an Bord verheißt Unglück, so heißt es«, fuhr er fort. »Aber das scheint nicht zu stimmen. Wir haben deutlich weniger Streit, Animositäten, Gehässigkeiten. Die Jungs lieben Eure Bücher. Ich weiß gar nicht, ob es so etwas auf anderen Schiffen gibt. Es ist wunderbar, dass Ihr den Jungs Eure Bücher verleiht.« Er nickte heftig. »Sie mögen Euch, wollen, dass es Euch gutgeht. Erinnert Ihr Euch an die Äquatortaufe?«
»Natürlich. Das war ein lustiger Abend.«
»Das ist nicht immer so lustig. Meine Linientaufe war grässlich.« Er schnaufte. »Das ist die Gelegenheit für die Leichtmatrosen, sich zu rächen. Als Schiffsjunge wurden sie geärgert und manchmal auch gequält und nun geben sie es weiter. Ich musste in den Schweinestall, verdorbene Fischreste essen, wurde geteert und meine Haare wurden geschoren. Der kleine Ferdinand hat es dagegen wirklich gut erwischt. Und das liegt daran, dass Ihr an Bord seid. Ihr seid bei den Leuten wohlgelitten und auch der Kapitän ist auf dieser Fahrt anders.«
»Anders? Wie?«
»Er hat nie jemanden kielgeholt oder gepeitscht, was aber durchaus üblich ist, wenn jemand seine Pflicht nicht erfüllt. Er straft hart, aber nie ungerecht. Auf einem Schiff wie diesem ist das Leben von der Aufmerksamkeit und Arbeit der Mannschaft abhängig. Wenn ein Matrose die Segel nicht ordentlich dichtholt, die Schoten nicht fiert oder die Zeisinge nicht zurrt, kann es Probleme geben. Wenn wir bei hoher See Segel
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