Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
geschehen.
Seufzend stand sie auf. Ihre Tante hatte den Tiffin – eine leichte Nachmittagsmahlzeit – vor zwei Jahren eingeführt. Der Brauch kam aus Indien, wo es gewöhnlich heißer war als in Hamburg. In diesem Jahr, dachte Emilia, könnten wir ähnliche Temperaturen erreichen. Zwischen den Häuserzeilen am Nikolaifleet und am Deichgraben stand die Hitze, als könnte man sie in Tortenstücke schneiden.
Sie kannte Erzählungen von Indien, Südamerika und der Neuen Welt von den Kapitänen und Schifffahrtsleuten, die bei ihrer Familieangestellt waren. Regelmäßig lud die Tante zu Tiffins, Lunches oder gar Bällen ein. Was gesellschaftliche Ereignisse betraf, war die Familie Bregartner in Hamburg führend. Kaum ein Tag verging ohne Gäste. Manchmal fuhren sie im Sommer nach Othmarschen und verbrachten dort einige Wochen auf dem Gut der Familie. Inken und Mats hatten geheiratet und verwalteten das Gutshaus das Jahr über. Fünf Kinder liefen inzwischen in den Gesinderäumen herum. Jedes Mal war Emilia traurig, wenn sie wieder abreisen musste.
»Fräulein Emilia?« Jule stand vor Emilias Bett. »Was macht Ihr denn? Wir müssen uns jetzt ankleiden, gleich kommt Besuch. Nach dem Tiffin wird es ein Diner geben, mit geladenen Gästen.«
»Ich habe Kopfweh.« Emilia legte die Hand auf die Stirn. »Ich kann nicht«, seufzte sie und schielte zum Dienstmädchen.
Jule nickte. »Ich bring Euch Kaffee. Überlegt schon einmal, welches Kleid Ihr tragen wollt.«
»Muss ich?«
»Ja, es ist der gnädigen Frau sehr wichtig. Ein Herr kommt, der ein Schiff bauen lässt. Eine Brigg. Sie sollen nett aussehen und freundlich sein.«
Emilia drehte sich zur Wand und ballte die Fäuste. »Ich brauche keinen Kaffee. Ich stehe gleich auf.«
Tante Minna betrachtete sie als nettes, hübsches und gebildetes Mittel zum Zweck. Sie hatte freundlich und zuvorkommend zu den Kunden zu sein. Nett, hübsch, still. Sie hasste diese Rolle.
»Was soll ich denn anziehen, Jule?«, fragte Emilia und stand auf.
»Zum Tiffin? Das blaue Seidenkleid. Das schmeichelt Euch. Die Farbe passt zu Euren Augen und Eure dunklen Haare bilden einen schönen Kontrast.«
»Wunderbar, dann nehmen wir das. Ist Post gekommen?«, fragte Emilia hoffnungsvoll.
»Noch nicht.«
Jeden Tag wartete sie darauf, dass er kommen würde. Der Brief, mit dem ihre Eltern sie nach England baten. Irgendwann wird es so weit sein. Sie hatte in diesem Sommer das Lyzeum abgeschlossen. AbHerbst konnte sie noch für ein Jahr die höhere Mädchenschule besuchen und weiterhin sticken lernen. Viel mehr wurde dort den Töchtern aus der feinen Gesellschaft nicht beigebracht. Küchenzettel und Rechnungen kontrollieren, Menüs zusammenstellen, den Haushalt beaufsichtigen, sticken. Verse in Latein sticken. Blümchen, Muster.
Emilia hasste es zu sticken. Zu gerne hätte sie ihre Hände in Hefeteig gesteckt, diesen geknetet und gewalzt. Mitgearbeitet, statt nur zuzusehen. Lediglich in den Sommermonaten in Othmarschen, wenn ihre Tante mit den Kindern an der Elbchaussee lustwandelte oder erschöpft von der Hitze im Schatten vor dem Haus lag, konnte sie in ihr früheres Leben zurückkehren. Dann hielt sie sich in der Küche beim Personal auf, half im Nutzgarten oder fütterte die Hühner.
In Hamburg war sie die Marionette ihrer Tante, ein nettes Mädchen, bald im heiratsfähigen Alter.
Jule schnürte ihr das Korsett.
»Das ist zu eng«, stöhnte Emilia. »Ich bekomme keine Luft mehr.«
»Aber Ihr wollt doch eine schöne Wespentaille haben, gnädiges Fräulein, so, wie es der Mode entspricht.«
Emilia seufzte. Sie hasste die engen Mieder und die weiten, unbequemen Röcke mit den Gestellen darunter, den vielen Unterröcken und dem ganzen Zierrat. Aber Tante Minna legte Wert darauf, dass sie immer nach der neuesten Mode gekleidet war. Zweimal im Jahr fuhr sie nach Paris, um neue Stoffe einzukaufen.
»Kommt jemand, den ich kenne?«, fragte Emilia kurzatmig, als sie auf dem Hocker vor dem Frisiertisch saß und Jule ihr die Haare kämmte.
»Der Herr Lessing kommt, er hat gerade ein Schiff in Auftrag gegeben. Und Doktor Schneider will vorsprechen, er ist so begeistert von Euch. Und dann noch der Herr Rickmers und der Herr Amsinck.«
Emilia lachte leise. »Alle Herren der Gesellschaft. Das wird ein Spaß. Nur den Lessing kenne ich noch gar nicht.«
»Na, der wird auch nur ein Mann sein.« Jule lachte.
Der Tiffin war eine Erfindung der Briten in Indien, wie Emilia herausgefunden hatte. Es gab nur
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