Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
ich darf, gerne. Ich habe schon eine Weile nicht mehr in solch einem schönen Haus gespeist.«
Tante Minna stand auf und ging mit raschelnden Röcken in den Flur. Sie musste ein weiteres Gedeck auflegen lassen.
»Ihr seid also Kapitän und kommt aus einer großen Familie, wie ich Euren Worten entnehme«, sagte Emilia.
»Beides ist richtig. Ich habe zwanzig Geschwister.«
»Oh.« Emilia hob den Fächer zum Gesicht. Zwanzig, dachte sie, die arme Frau.
»Zwölf sind aus der ersten Ehe meines Vaters. Seine Frau starb im Kindbett. Ich bin das Fünfte von neun Kindern meiner Mutter.«
»Eine so große Familie. Dieses Glück ist mir nicht beschieden.«
»Eine große Familie ist nicht immer von Vorteil«, sagte er leise. »Mein Vater hat viele Söhne, die er alle unterbringen musste, was nicht gerade einfach war. Mein Vater starb vor fünf Jahren.«
»Mein Beileid.« Sie spürte, dass er einen Groll gegen seinen Vater hegte.
Lessing zuckte mit den Schultern. »Wir sind alle unseres Glückes Schmied. Mich hat es zur Seefahrt hingezogen, während meine Brüder andere Wege gehen. Carl Robert zum Beispiel ist Jurist und Herausgeber der Vossischen Zeitung in Berlin.«
»Carl scheint ein häufiger Name in Eurer Familie zu sein«, sagte Emilia belustigt.
»Mein Vater hieß Carl Friedrich. Seinen Rufnamen hat er all seinen Söhnen vermacht.«
»Das ist, wenn ich es recht überlege, sehr praktisch. Eure Mutter musste nur ›Carl‹ rufen und alle kamen angelaufen.«
Lessing lachte. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet, aber Ihr habt nicht ganz unrecht. Sollte ich mal Kinder bekommen, könnte ich ihnen auch denselben Namen geben und würde somit alle ansprechen. Aber«, er schüttelte belustigt den Kopf, »es hat sicher auch Nachteile. Stellt Euch vor, man fragt ›Wer war das?‹, wenn eines der Kinder Unfug angestellt hat, und die Antwort lautet nur: ›Carl‹! Dann ist das sehr unbefriedigend.«
»Also wurdet ihr alle mit Vor- und Zweitnamen gerufen?«
»Wir wurden alle mit unserem Zweitnamen gerufen und werden es immer noch. Wobei ich bei geschäftlichen Dingen meinen ersten Namen vorziehe, ›Gotthold‹ klingt zu pathetisch für einen Protestanten wie mich.«
»Ihr habt Euer Kapitänspatent erworben und wollt nun auf große Fahrt gehen?«
»Mein Vater hätte mich gerne in der britischen Marine gesehen, doch als Ausländer war das nicht möglich. Also wurde ich mit fünfzehn Schiffsjunge und habe eine lange und harte Ausbildung von der Pike auf hinter mir. Ich wurde Steuermann und schließlich hat mir mein Bruder, Carl Friedrich«, er zwinkerte ihr zu, »Geld gegeben, damit ich hier in Hamburg auf die Kapitänsschule gehen konnte. Mein Patent bekam ich schon nach vier Monaten. Ich habe für einen Reeder ein Schiff nach Südamerika gesegelt und dann nach Asien. Ich werde nächste Woche wieder nach Chile aufbrechen und dort Kohle und andere Waren gegen Salpeter tauschen. Wenn ich, so Gott will und die Winde um Kap Hoorn es zulassen, nächstes Jahr zurückkomme, möchte ich mein eigenes Schiff übernehmen und unter meiner eigenen Flagge segeln.«
»Das sind doch ganz großartige Pläne«, sagte Emilia. »Dann hoffe ich für Euch, dass die Winde nicht widrig sein werden und Ihr Euer Ziel erreicht.«
Sie wechselte noch ein paar Worte mit den anderen Gästen, doch dann sah ihre Tante sie an und zog die Augenbrauen hoch.
In der Diele hatte ein Musiker Platz genommen und spielte nun heitere Weisen auf dem Klavier, um die Zeit bis zum Diner zu überbrücken.
Emilia hastete die Treppe nach oben in den zweiten Stock, wo Jule schon auf sie wartete.
»Ich habe so einen Hunger«, stöhnte Emilia.
»Aus der Küche duftet es schon ganz hervorragend«, sagte Jule und grinste breit. »Aber warum habt Ihr denn beim Tiffin nicht zugelangt?«
»Sehr komisch, Jule. Wenn du das Mieder so eng schnürst, dass ich kaum Luft holen kann, kann ich auch nichts essen.« Sie schnaubte. »Also locker das Korsett, damit ich wenigstens beim Diner etwas zu mir nehmen kann.«
»Aber nicht zu viel, Ihr wollt Euch doch nicht Eure Chancen bei den jungen Herren verspielen, indem Ihr zulangt wie ein Scheunendrescher.« Jule lachte.
»Ach, meine Chancen. Ich möchte nicht Frau Doktor Schneider werden, das passt auch nicht recht zu den Erwartungen meiner Tante. Da ist dann noch Herr Rickmers, doch der scheint mir eher aus geschäftlichem Interesse herzukommen. Er wird irgendwann die Werft seines Vaters in Bremen übernehmen. Und Herr
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