Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
ihre Gedankengänge nachvollziehen konnte. Ihr ging es gut, sie hatte eine ordentliche Ausbildung, war eine gute Partie. Sie war im emporstrebenden Hamburg groß geworden, kannte alle wichtigen Familien, hatte alles im Überfluss, bis auf die Wärme und Geborgenheit, die sie in ihren ersten Lebensjahren in Othmarschen erfahren hatte. In Hamburg fühlte sie sich deplatziert, auch wenn ihr das keiner ansah oder anmerkte. Die eleganten Kleider trug sie, als wären sie angegossen. Sie bewegte sich im gesellschaftlichen Leben der Stadt, als hätte sie nie etwas anderes gemacht und kennengelernt. Doch in ihrem Inneren sehnte sie sich nach den sorglosen Tagen in Othmarschen ohne Etikette und strenge Regeln, ohne Korsett und Reifrock, zurück. Aber das durfte niemand wissen, schon gar nicht ihre Tante Wilhelmina.
Die Gäste betraten, geführt von Tante Wilhelmina, das Esszimmer. Emilia blieb an dem Platz stehen, den sie für sich gewählt hatte. Vor den Gästen würde die Tante sie nicht umsetzen.
»Miss Bregartner«, begrüßte William Lindley sie. »What a delight to see you again.«
»Mister Lindley.« Emilia reichte ihm die Hand. »The delight is on my side. Congratulation to the birth of your son. I hope, your wife is fine.«
»Thank you so much. Fatherhood is a new adventure in my life.«
»Ihr sprecht ein ausgezeichnetes Englisch«, sagte Lessing zu ihr, als sie am Tisch saßen.
Emilia senkte den Kopf. »Nun, meine Familie lebt in England. Irgendwann möchte ich zu ihnen.«
»Ihre Familie, Fräulein Bregartner?«
»Meine Eltern und mein Bruder, um genau zu sein. Sie sind vor einigen Jahren nach England gegangen. Ich bin bei meinem Onkel und meiner Tante geblieben.«
»Ach, ich verstehe. Mit fünfzehn hat mich mein Vater nach Hamburg zur Verwandtschaft geschickt. Ich habe meine Familie sehr vermisst. Aber Ihr steht doch in Kontakt mit Euren Eltern?«
»Natürlich. Wir schreiben uns regelmäßig.«
Was sie ihm nicht sagte, war, dass sie die Briefe ihrer Mutter als kalt und oberflächlich empfand. Möglicherweise lag es daran, dass das Leben in England so ganz anders war als hier und ihre Mutter nicht wusste, wie sie es beschreiben sollte. Vor drei Jahren waren die Eltern für einige Monate zu Besuch gewesen. Emilia hatte sich sehr darauf gefreut und gehofft, dass sie mit ihnen zurückreisen dürfe. Doch statt eines innigen Wiedersehens hatte ein eher kühles Treffen stattgefunden. Als ob sie sich auch im Herzen fremd geworden wären. Mutter verbrachte viel Zeit in Ottensen auf dem Friedhof bei den Gräbern ihrer Kinder. Und dann wieder auf den Gesellschaften ihrer Schwägerin. Zeit für Emilia hatte sie kaum und zu liebevollen Gesprächen kam es nicht.
Julius war gerade acht geworden. Er sprach zwar Deutsch, jedoch mit einem starken Akzent. Er fuhr oft mit Onkel Hinrich und Vater zur Werft und interessierte sich für alles, was mechanisch war. Seine Schwester, an die er keine Erinnerungen mehr hatte, war ihm wohl genauso fremd, wie er es für Emilia war.
Als sie wieder fuhren, fühlte sich Emilia noch einsamer und verlassener als zuvor. Und natürlich nahmen sie sie nicht mit.
Sie versuchte, die düsteren Gedanken abzuschütteln und wieder den Gesprächen am Tisch zu folgen.
»Wir kämpfen immer noch um eine Genehmigung beim Bürgerrat, gnädige Frau«, sagte Lindley mit ernster Stimme.
»Meine Freundinnen und ich«, sagte Tante Minna mit Nachdruck, »setzen uns sehr für dieses Projekt ein. Es ist eine Schande, dass es nicht schon längst genehmigt wurde. Eine öffentliche Badeanstalt ist in dieser Stadt dringend erforderlich. Wir sammeln fleißig weiter Geld. Nächste Woche werde ich einen Liederabend veranstalten.«
»Wunderbar.« Lindley nickte. »So eine Badeanstalt hat eine größere Bedeutung, als nur die Reinlichkeit der ärmeren Bevölkerung zu unterstützen.«
»Ihr wollt eine öffentliche Badeanstalt einrichten?«, fragte Lessing verblüfft.
»Oh ja. Am Schweinemarkt. Körperliche Unreinlichkeit erzeugt sehr bald einen Mangel an Selbstachtung, bringt Rohheit und Laster. Wenn man die niedrige Bevölkerung dazu anhalten kann, sich und ihre Wäsche zu reinigen, wird sie das auch von den Wirtshäusern fernhalten.«
»Baden als gesellschaftliche Erziehungsmaßnahme? Es gibt doch Badeschiffe an Alster und Elbe«, meinte Lessing.
»Die Badeschiffe dienen eher dem Vergnügen und der Erholung, mein guter Mann, als der Säuberung.« Lindley lächelte zufrieden.
»Durch Herrn Lindleys Erfindungen
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