Die Auswahl. Cassia und Ky
er diese Erfahrung schon einmal gemacht hat, vielleicht sogar mehrmals, im Zusammenhang mit seiner Arbeit. Zwar wirkt die Tablette auch bei ihm, aber er scheint weniger verwirrt von seinem desorientierten Zustand.
Zum Glück, denn noch sind die Funktionäre nicht fertig mit meiner Familie.
»Private Nachricht für Molly Reyes«, sagt die Computerstimme aus dem Terminal.
Überrascht blickt meine Mutter auf. »Ich werde zu spät zur Arbeit kommen«, protestiert sie schwach, obwohl derjenige, von dem die Nachricht stammt, sie unmöglich hören kann. Auch, wie sie die Schultern strafft, bevor sie zum Terminal geht und den Kopfhörer aufsetzt, kann niemand sehen. Der Bildschirm wird schwarz – das Bild ist nur von ihrem Standpunkt aus erkennbar.
»Und jetzt?«, fragt Bram. »Soll ich warten?«
»Nein, geh du nur in die Schule«, erwidert mein Vater. »Wir möchten nicht, dass du zu spät kommst.«
Auf dem Weg zur Tür schimpft Bram vor sich hin: »Ich verpasse immer
alles
!« Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass er unrecht hat. Aber würde ich wirklich wollen, dass er im Gedächtnis behalten hätte, was heute Morgen passiert ist?
Irgendetwas geschieht mit mir, als ich beobachte, wie Bram unser Haus verlässt und das Leben wieder eine reale Dimension erhält. Bram ist real. Ich bin real. Ky ist real. Ich muss anfangen, nach ihm zu suchen.
Sofort.
»Ich fahre heute Morgen in die Stadt«, sage ich zu meinem Vater.
»Geht ihr heute nicht wandern?«, fragt er und schüttelt dann den Kopf, als wolle er seine Gedanken ordnen. »Tut mir leid. Gerade ist es mir wieder eingefallen. Die Sommerfreizeitaktivitäten wurden dieses Jahr vorzeitig beendet, richtig? Deswegen geht Bram jetzt schon zur Schule anstatt zum Schwimmen. Ich bin irgendwie noch nicht richtig wach.« Er scheint aber von dieser Tatsache nicht überrascht zu sein und ich werde in meiner Vermutung bestärkt, dass er das nicht zum ersten Mal erlebt. Ich erinnere mich auch daran, wie er zugelassen hat, dass Mama die rote Tablette zuerst einnahm. Irgendwie muss er gewusst haben, dass sie ihr nicht schadet.
»Sie haben uns noch keine andere Beschäftigung als Ersatz für das Wandern zugewiesen«, beruhige ich meinen Vater. »Deswegen habe ich Zeit, vor der Schule noch in die Stadt zu fahren.« Schon dieses Versehen ist ein weiteres kleines Stottern in der gutgeölten Gesellschaftsmaschinerie – ein Beweis, dass irgendwo etwas faul ist.
Mein Vater antwortet nicht. Beunruhigt sieht er zu meiner Mutter hin, die aschfahl und entsetzt den Terminal-Bildschirm anstarrt. »Molly?«, fragt er, obwohl man eine private Nachricht normalerweise nicht unterbrechen darf. Trotzdem geht er ein paar Schritte näher. Und noch näher.
Endlich, als er ihr die Hand auf die Schulter legt, wendet sie sich vom Bildschirm ab. »Es ist meine Schuld«, flüstert meine Mutter, und zum ersten Mal sehe ich, wie sie durch meinen Vater hindurchblickt und ihn nicht ansieht. Ihr Blick ist auf einen imaginären Punkt in der Ferne gerichtet. »Wir werden umgesiedelt, in die Landwirtschaftsgebiete, mit sofortiger Wirkung.«
»Wie bitte?«
, fragt mein Vater. Er schüttelt den Kopf, blickt auf das Terminal hinter ihr. »Das ist unmöglich! Du hast den Bericht abgegeben! Du hast die Wahrheit gesagt!«
»Ich glaube, die wollen nicht, dass irgendjemand von uns, der die illegalen Nutzpflanzen gesehen hat, weiterhin in einer verantwortungsvollen Position arbeitet«, antwortet meine Mutter. »Wir wissen zu viel. Wir könnten in die Versuchung geraten, dem Beispiel der Pflanzer zu folgen. Sie schicken uns in die Landwirtschaftsgebiete, wo wir nichts mehr zu sagen haben. Wo sie uns beobachten können, wo wir pflanzen müssen, was sie befehlen.«
»Wenigstens sind wir dann näher bei Großmutter und Großvater«, sage ich, in dem Versuch, sie zu trösten.
»Wir ziehen nicht in die Landwirtschaftsgebiete von Oria«, erwidert meine Mutter. »Sondern in eine andere Provinz. Morgen müssen wir weg.« Ihr Gesicht ist starr und ausdruckslos. Erst als sie zu meinem Vater schaut, kann ich sehen, wie sich Verständnis und Emotionen wieder in ihrem Blick spiegeln. Während ich sie dabei beobachte, spüre ich einen so starken Drang in mir aufsteigen, dass ich ihn kaum beherrschen kann.
Ich muss herausfinden, wohin sie Ky geschickt haben. Bevor wir gehen müssen.
»Ich wollte schon immer in einem Landwirtschaftsgebiet leben«, behauptet mein Vater, und meine Mutter legt den Kopf an seine Schulter, zu
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