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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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erinnern, auch an die schmerzlichen Episoden.
    Meine Mutter dreht sich um und sieht mich an. Ich habe Angst, in leere Augen oder ein ausdrucksloses, stumpfes Gesicht zu
     blicken. Aber sie sieht ganz normal aus. Ebenso wie mein Vater.
    Bald haben sich alle in einer Reihe aufgestellt, die rote Tablette in der Hand, bereit, das hier hinter sich zu bringen und ihr Leben weiterzuleben. Was werde ich tun, wenn sie feststellen, dass ich meine weggeworfen habe? Ich werfe einen verstohlenen Blick auf das Gras zu meinen Füßen, halb in der Erwartung, eine winzige helle, kahle Stelle zu sehen, wo das Gras weggeätzt wurde. Aber ich kann nicht einmal die Reste der Tablette erkennen. Ich muss sie vollständig zertreten haben.
    Bram wirkt verängstigt und aufgeregt zugleich. Er ist noch nicht alt genug, um seine eigene rote Tablette mit sich zu führen, daher gibt mein Vater ihm die zusätzliche, die er bei sich trägt.
    Jetzt überprüft meine Funktionärin einen nach dem anderen. Sie kommt näher und näher, aber ich kann meine Augen nicht von Bram und dann von Em abwenden, als sie ihre Tabletten schlucken. Voller Angst denke ich an meinen Traum zurück, aber nichts passiert. Jedenfalls kann ich nichts feststellen.
    Dann ist Xander an der Reihe. Er sieht kurz zu mir hinüber, bemerkt, dass ich ihn anschaue, und ein tiefer Schmerz spiegelt sich auf seinem Gesicht wider. Ich würde am liebsten wegschauen, tue es aber nicht. Ich sehe, wie Xander mir zunickt und die rote Tablette anhebt, fast, als wolle er mich grüßen.
    Bevor ich beobachten kann, wie er sie nimmt, wird mir die Sicht versperrt. Es ist meine Funktionärin.
    »Bitte zeigen Sie mir Ihre Tablette«, sagt sie.
    »Hier.« Ich halte ihr meine Hand hin, öffne sie aber nicht.
    Ich bilde mir ein, den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Obwohl ich weiß, dass sie eine Extraration Tabletten dabeihat – ich habe sie gesehen –, bietet sie mir keine an.
    Ihr Blick huscht zu dem Gras zu meinen Füßen und wandert dann wieder nach oben zu meinem Gesicht. Ich hebe den Arm, tue so, als würde ich mir etwas in den Mund stecken, und schlucke dann betont. Sie geht weiter zur nächsten Person.
    Obwohl ich genau das beabsichtigt habe, hasse ich sie. Sie
will
, dass ich mich daran erinnere, was hier geschehen ist. Was ich getan habe.

KAPITEL 30

    A ls die Dunkelheit endlich schwindet, bricht ein heißer, stahlgrauer Morgen an, ein Morgen ohne Dimension, ohne Räumlichkeit, ohne Tiefe. Die Häuser in unserer Straße wirken wie Kulissen, die ganze Szenerie wirkt künstlich wie in einer Filmvorführung. Ich habe das Gefühl, dass ich, wenn ich zu weit ginge, gegen eine Leinwand stoßen oder durch eine Papierwand brechen würde und hinaus in das schwarze Nichts und ans Ende der Welt gelangen würde.
    Meine Angst ist irgendwie aufgebraucht. Stattdessen erfasst mich Lethargie, was fast noch schlimmer ist. Warum sollte ich
     mich um einen eindimensionalen Planeten mit eindimensionalen Bewohnern sorgen? Wen interessiert schon ein Ort ohne Ky?
    Ich erkenne, dass dies einer der Gründe ist, warum ich ihn brauche. Wenn ich mit Ky zusammen bin,
fühle
ich.
    Aber er ist fort. Ich habe gesehen, was passiert ist.
    Ich bin schuld.
    Ist es Sisyphus auch so gegangen?
, frage ich mich.
Dass er einen Moment innehalten und sich gegen den Stein stemmen musste, ihn gerade so weit schieben, dass er nicht zurückrollen und ihn unter sich begraben konnte, bevor er auch nur daran denken konnte, einen neuen Aufstieg zu beginnen?

    Die rote Tablette zeigte praktisch sofort Wirkung, nachdem die Polizisten und Funktionäre uns nach Hause eskortiert hatten. Die Ereignisse der letzten zwölf Stunden sind aus dem Gedächtnis meiner Familie gelöscht worden. Innerhalb einer Stunde ist eine Lieferung mit neuen Behältern und Tabletten eingetroffen, mit einem Begleitschreiben, in dem stand, dass unsere abgelaufen und zu einem früheren Zeitpunkt an diesem Morgen entfernt worden seien. Meine Eltern und Bram akzeptieren diese Erklärung ohne Nachfrage. Sie haben ganz andere Sorgen.
    Meine Mutter ist ein bisschen durcheinander – wo hat sie ihren Dienst-Datenpod hingelegt, als sie ihn gestern Abend nicht mehr brauchte? Bram kann sich nicht mehr daran erinnern, ob er seine Hausaufgaben auf dem Schreibcomputer erledigt hat.
    »Schalte ihn doch einfach ein und sieh nach, Schatz«, rät ihm meine Mutter erstaunt. Auch mein Vater wirkt ein wenig gedankenverloren, aber nicht ganz so schusselig. Ich habe den Eindruck, dass

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