Die Auswahl. Cassia und Ky
erstaunt zugleich. »Wunderbar! Vielleicht möchten Sie in der zweiten Etage beginnen? Dort befinden sich einige unserer beliebtesten Ausstellungsstücke.«
Ich möchte nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen, daher nicke ich und steige die Treppe hinauf, wobei mich das Echo der Metallstufen schmerzlich an Kys Schritte auf den Stufen zur Haltestelle erinnert.
Denk jetzt nicht daran. Du musst ganz ruhig bleiben. Weißt du noch, wie du einmal mit der Grundschulklasse hier gewesen bist? Das war, bevor Ky zu uns in die Siedlung gezogen ist. Damals, als wir noch Zeit hatten, über die Vergangenheit nachzudenken, bevor wir auf die Höhere Schule wechselten, wo nur die Zukunft zählt. Gemeinsam mit vielen anderen Grundschülern bist du in die Museumsmensa gegangen. Alle Kinder waren schrecklich aufgeregt, an einem neuen, anderen Ort zu essen. Weißt du noch, wie Xanders hellblonder Schopf sich unter all den anderen hervorhob und wie er so tat, als höre er aufmerksam zu, während er mit leiser Stimme Witze machte?
Xander. Wenn ich ihn hier zurücklassen muss, wird dann noch ein weiteres Stück aus meinem Herzen herausgerissen werden?
Natürlich.
Ein Schild weist den Weg zum Saal mit den Artefakten, und ich biege rechts ab, weil ich die Ausstellung sehen will. Weil ich sehen will, wo sie all die Sachen hingeschafft haben, die sie uns gestohlen haben. Vielleicht entdecke ich meine Puderdose wieder, Xanders Manschettenknöpfe, Brams Uhr. Ich könnte noch mit ihm hierhergehen, bevor wir in die Landwirtschaftsgebiete umziehen.
Ich bleibe in der Mitte des Saales stehen und stelle fest, dass nichts von unseren Sachen hier ist.
Zwar gibt es zahlreiche Vitrinen, die bis obenhin voller Artefakte sind, aber die neue Ausstellung besteht aus nichts als
einem langgestreckten Glaskasten, riesig und leer. Ein Schild in der Mitte mit Druckbuchstaben, die so verschieden von Kys
Schreibschrift sind, sagt: DEMNÄCHST HIER: ZUSÄTZLICHE ARTEFAKTE . Eine Lampe beleuchtet von oben die Information in ihrem leeren, hohlen Kasten. Das Schild würde sich in dieser versiegelten, keimfreien Umgebung gewiss bis in alle Ewigkeit halten. Wie das Stoffmuster meines Kleides vom Paarungsbankett.
Aber ich habe das Glas bereits zerbrochen, das Grün verschenkt, ich habe meine Wahl getroffen. Ich habe das Gefühl, ohne Ky in meiner Nähe langsam zu sterben, und ich muss mich anstrengen, am Leben zu bleiben, um ihn zu finden.
Mir wird klar, dass unsere Artefakte womöglich nie in diesen Kasten gelangen werden. Das Schild ist das einzige Ausstellungsstück, das je dort zu sehen sein wird. Was haben sie nur mit unseren Sachen gemacht?
Ich weiß jetzt, dass mir nichts mehr geblieben ist.
Ich gehe die Treppen hinunter ins Untergeschoss. Wo die
Glorreiche Geschichte Orias
ausgestellt ist, wo ich schon von Anfang an hinwollte, bevor die Gelegenheit, einen Blick auf Verlorenes zu werfen, mich
von dem zu Suchenden ablenkte.
Ich stehe dicht vor der Glasscheibe und blicke auf eine Karte unserer Provinz mit der Hauptstadt, den Landwirtschaftsgebieten und den Flüssen, als sich hinter mir Schritte über den Marmorfußboden nähern. Ein kleiner Mann in Uniform stellt sich neben mich. »Möchten Sie, dass ich Ihnen mehr über die Geschichte von Oria erzähle?«, fragt er mich.
Unsere Blicke treffen sich: meiner forschend, seiner eindringlich und klug.
Ich sehe ihn an und weiß plötzlich, dass ich nicht dazu bereit bin, unser Gedicht zu verkaufen. Ich bin egoistisch. Außer dem Stück Stoff war es das Einzige, was ich Ky schenken konnte, und wir sind die letzten beiden Menschen auf der Welt, die es Wort für Wort kennen. Sogar hier stecke ich in einer Sackgasse, sogar diese Idee funktioniert nicht. Ich könnte das Gedicht eintauschen, aber es würde mir nichts bringen. Ich kann darauf nicht verzichten, es ist keine Option.
»Nein, danke«, antworte ich dem Mann, obwohl ich tatsächlich gerne die wahre Geschichte meiner Heimatprovinz erfahren würde. Aber ich glaube nicht, dass irgendjemand sie noch kennt.
Bevor ich gehe, werfe ich noch einen Blick auf die Karte unserer Gesellschaft. Dort, in der Mitte, liegen dick und selbstzufrieden die großen zentralen Provinzen. Rings um sie sind alle Äußeren Provinzen eingezeichnet. Sie sind durch Grenzlinien in Untersektoren gegliedert, aber keine von ihnen trägt einen Namen.
»Warten Sie!«, rufe ich dem Mann hinterher.
Er dreht sich um und blickt mich erwartungsvoll an. »Ja?«
»Kennt irgendjemand die Namen
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