Die Auswahl. Cassia und Ky
morgendliche Ruhestörung. Dieser junge Mann hat eine neue Arbeitsstelle erhalten, und wir haben ihn lediglich abgeholt, um ihn dorthin zu eskortieren. Da er künftig außerhalb von Oria arbeiten wird, hat seine Mutter überreagiert.«
Aber warum die vielen Polizisten? Warum die vielen Funktionäre? Wozu die Handschellen?
Die Erklärung des Funktionärs ergibt überhaupt keinen Sinn, doch nach einer kurzen Pause nicken alle und geben sich mit seiner Begründung zufrieden. Alle, außer Xander. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber dann sieht er mich an und schließt ihn wieder.
Das Adrenalin, das bei meinem Versuch, Ky einzuholen, ausgeschüttet wurde, verliert seine Wirkung, und eine schreckliche Ahnung überfällt mich.
Wo immer Ky hingebracht wird, ich bin daran schuld. Wegen meiner Sortierung oder weil ich ihn geküsst habe. So oder so ist es meine Schuld.
»Nichts als Lügen!«, ruft Patrick Markham. Alle drehen sich um und sehen ihn an. Obwohl er im Pyjama dasteht, das Gesicht gezeichnet von alldem, was er erlitten hat, besitzt er eine stille Würde – eine Eigenschaft, die ihm niemand nehmen kann. Das habe ich so bisher nur an einem einzigen anderen Menschen gesehen. Obwohl Patrick und Ky keine Blutsverwandten sind, ist ihnen dieselbe Art von Stärke eigen.
»Die Funktionäre haben Ky und den anderen Arbeitern gegenüber behauptet, dass sie eine neue Arbeitsstelle erhalten würden«, sagt er und sieht dabei mich an. »Etwas Besseres. Aber in Wahrheit schicken sie sie hinaus in die Äußeren Provinzen, um dort zu kämpfen.«
Ich schrecke zurück, als hätte man mir eine Ohrfeige verpasst, und meine Mutter streckt die Hand nach mir aus, damit ich nicht falle.
Patrick redet weiter. »Der Krieg gegen den Feind verläuft nicht erfolgreich. Deswegen brauchen sie neue Soldaten zum Kämpfen. Alle Bewohner dieser Landstriche sind inzwischen tot.
Alle.
« Er hält inne und fährt dann wie im Selbstgespräch fort. »Ich hätte wissen müssen, dass sie zuerst die Aberrationen holen. Ich hätte wissen müssen, das Ky auf der Liste steht … Aber ich dachte, nach allem, was wir durchgemacht haben …« Seine Stimme zittert.
Aida dreht sich zu ihm um, wütend, aber verzweifelt. »Wir haben es manchmal einfach fast vergessen. Aber er niemals. Er wusste, dass dies passieren würde. Hast du seine Augen gesehen, als sie ihn abgeholt haben?« Sie wirft Patrick die Arme um den Hals, und er hält sie fest. Ihr Schluchzen klingt laut durch die stille Morgenluft. »Er wird sterben. Wenn sie ihn dorthin bringen, ist das sein Todesurteil!« Dann reißt sie sich los und schreit den Funktionären zu: »Er wird
sterben
!«
Zwei der Polizisten hechten auf sie zu, reißen Patrick und Aida die Arme auf den Rücken und zerren sie weg. Patricks Kopf schlägt zurück, als einer der Polizisten ihm grob die Hand auf den Mund presst, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dasselbe machen sie mit Aida. Ihre Schreie klingen nur noch erstickt. Ich habe noch nie gesehen oder je davon gehört, dass Funktionäre solch rohe Gewalt anwenden. Wissen sie nicht, dass sie damit Patrick und Aida recht geben?
Ein Aircar landet neben uns und spuckt weitere Funktionäre aus. Die Polizisten stoßen die Markhams darauf zu.
Aida streckt die Hand nach der von Patrick aus. Sie verpassen sich nur um wenige Zentimeter – ihnen bleibt diese Berührung versagt, das Einzige auf der Welt, was sie in diesem Moment hätte trösten können.
Ich schließe die Augen. Ich wünschte, ihre Schreie würden nicht in meinen Ohren hallen, ihre Rufe, die ich nie vergessen werde.
Er wird sterben!
Ich wünschte, meine Mutter würde mich nach Hause bringen, ins Bett legen und fest zudecken, wie sie es getan hat, als ich noch ein kleines Kind war. Als ich noch keine Angst vor der Dunkelheit hatte, als ich noch nicht wusste, wie es sich anfühlt, ausbrechen und frei sein zu wollen.
»Entschuldigen Sie.«
Die Stimme kenne ich. Es ist die meiner Funktionärin, die aus dem Park. Neben ihr steht ein Funktionär mit den Abzeichen des höchsten Regierungsranges: drei goldene Sterne, die im Laternenlicht funkeln. Stille legt sich über uns.
»Bitte nehmen Sie jetzt alle Ihre Tablettenbehälter zur Hand«, sagt der hochrangige Funktionär freundlich, »und holen Sie die rote Tablette heraus.«
Wir alle gehorchen. Mit einer Hand umschließe ich den kleinen Behälter in meiner Tasche, in dem die drei Tabletten sicher aufbewahrt sind. Blau, grün und rot. Jetzt werden wir
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