Die Auswahl. Cassia und Ky
Gewicht dieses Geheimnisses ruht in meiner Hand. Dann öffne ich es.
Ich hatte recht: Die Worte
sind
alt. Doch obwohl ich diese Art von Schrift nicht kenne, ist mir doch das Format des Textes vertraut.
Großvater hat mir ein Gedicht geschenkt.
Natürlich. Meine Urgroßmutter. Die Hundert Gedichte. Ohne in einem der Schulterminals nachsehen zu müssen, weiß ich, dass dieses Gedicht nicht dazugehört. Sie ist ein großes Risiko eingegangen, indem sie dieses Blatt Papier versteckte, und mein Großvater und meine Großmutter sind ebenfalls ein großes Risiko eingegangen, indem sie es behielten. Welche Gedichte könnten es wert sein, dass meine Vorfahren alles für sie aufs Spiel gesetzt haben?
Aber schon die erste Zeile lässt mich meine Gedanken vergessen und treibt mir die Tränen in die Augen, ohne dass ich wüsste, warum. Diese eine Zeile berührt mich so tief, wie mich nie zuvor etwas berührt hat.
Geh nicht gelassen in die gute Nacht
Ich lese weiter, hangele mich von Wort zu Wort, von Bekanntem zu Unbekanntem. Ich verstehe, warum diese Verse Großvater so berührt haben:
Geh nicht gelassen in die gute Nacht,
Brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert;
Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.
Je weiter ich lese, desto besser verstehe ich, warum es mich auch so sehr bewegt:
Weil keinen Funken je ihr Wort erbracht,
Weise – gewiss, dass Dunkel rechtens dauert,
Gehn nicht gelassen in die gute Nacht.
Meine Worte haben noch nie einen Funken erbracht. Genau das versuchte Großvater mir zu sagen, bevor er starb, als ich ihm den Brief überreichte, den ich nicht selbst geschrieben hatte. Nichts, was ich geschrieben oder getan habe, hat bisher irgendetwas in dieser Welt bewirkt, und plötzlich weiß ich, wie es sich anfühlt, wütend zu sein, und was es bedeutet, Sehnsucht zu empfinden.
Ich lese das ganze Gedicht, ich nehme es auf, fühle es in mir. Ich lese über Meteore, grünes Blühen und Tränenwut, und obwohl ich nicht alles verstehe – die Sprache ist zu alt – verstehe ich genug. Ich verstehe, warum mein Großvater dieses Gedicht geliebt hat – weil ich es auch liebe. Jede einzelne Zeile. Die Wut und das Licht.
In der Zeile unter dem Titel des Gedichts steht ein Name:
Dylan Thomas, 1914–1953
.
Auf der anderen Seite des Blattes steht noch ein Gedicht. Es heißt
Überqueren der Barre
und stammt von einem Dichter, der sogar noch vor Dylan Thomas gelebt hat –
Lord Alfred Tennyson. 1809–1892
.
Vor so langer Zeit, denke ich. Vor so langer Zeit lebten und starben sie.
Und genauso wie Großvater sind sie tot.
Begierig lese ich auch das zweite Gedicht. Ich lese die Zeilen beider Gedichte mehrmals hintereinander, bis ich plötzlich ganz in meiner Nähe das trockene Knacken eines Zweiges höre. Schnell falte ich das Blatt zusammen und verstecke es. Ich habe die Zeit vergessen, war zu lange hier. Ich muss aufbrechen und die Zeit aufholen, die ich verloren habe.
Ich muss rennen.
Heute muss ich mich nicht zurückhalten, ich stehe nicht auf dem Laufband, das meine Geschwindigkeit kontrolliert. Ich kann mich so richtig verausgaben und stürme durch die Zweige der Bäume den Hügel hinauf. Die Worte des Thomas-Gedichts sind so kraftvoll und schön, dass ich sie im Stillen wiederhole, während ich renne. Rhythmisch geht es mir durch den Kopf:
geh nicht gelassen, geh nicht gelassen, geh nicht gelassen.
Erst als ich die Kuppe des Hügels fast erreicht habe, wird mir schlagartig klar, warum man dieses Gedicht nicht in die Sammlung der Hundert aufgenommen hat.
Diese Verse fordern zum Widerstand auf.
Ein weiterer Zweig peitscht mein Gesicht, als ich mich durch die letzten Büsche schlage, aber ich bleibe nicht stehen, bis ich die Lichtung erreicht habe, bis ich ganz oben bin. Ich suche den Offizier. Er ist nicht da, aber ein anderer hat den Gipfel bereits erreicht. Ky Markham.
Zu meiner Überraschung sind wir allein auf dem Gipfel des Hügels. Kein Offizier. Kein anderer Wanderer.
Ky wirkt gelöster, als ich ihn je erlebt habe. Auf die Ellbogen gestützt, liegt er auf der Wiese, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen. Er sieht anders aus, fast unbekümmert, jetzt, wo er sich unbeobachtet fühlt. Als ich ihn betrachte, denke ich bei mir, dass die Distanz, die er zu uns anderen hält, hauptsächlich durch den Ausdruck in seinen Augen zustande kommt. Denn als er mich hört, öffnet er sie und blickt mich an – und da wäre es fast geschehen. Fast hätte ich einen kurzen Blick auf
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