Die Auswahl. Cassia und Ky
vor, wie unsere alten Kindheitsgesten wieder aufleben. Gesten, die wir hinter uns ließen, als wir älter wurden, auch wenn wir Freunde geblieben sind. Seine Hand zu halten, vermittelt mir immer noch ein Gefühl der Freundschaft, etwas, das mir seit vielen Jahren vertraut ist – aber zugleich fühlt es sich anders an. Jetzt, wo es mehr bedeutet. Jetzt, wo es Partnerschaft bedeutet.
Xander sieht mich fragend an, aber ich füge nichts mehr hinzu.
Ich kann Xander nicht von Ky erzählen, weil Ky direkt neben mir sitzt
, denke ich
, und ich kann Xander nicht von dem Papier erzählen, weil es hier zu voll ist
. Damit begründe ich vor mir selbst, dass ich Xander nicht wie üblich ins Vertrauen ziehe.
Aber diese Erklärung fühlt sich irgendwie nicht so plausibel an, wie sie es sollte.
Em sagt etwas zu Xander, er dreht sich um und antwortet ihr. Ich starre einen Moment lang vor mich hin und denke darüber nach, wie seltsam es ist, dass ich gerade jetzt, wo wir gepaart wurden, die ersten Geheimnisse vor Xander habe.
»Ist schon ein paar Wochen her, dass ich Zeit hatte, den Samstagabend mit euch zu verbringen«, sagt Ky. Als ich ihn anblicke, wird gerade das Licht gedimmt, wodurch seine Züge weicher wirken und sich der Abstand zwischen uns zu verringern scheint. In seinen Worten schwingt ein Hauch Verbitterung mit – nur eine Spur, aber mehr, als ich je von ihm gehört habe. »Seit ich arbeite, habe ich nicht mehr so viel Zeit wie früher. Ich bin froh, dass es euch nichts ausmacht.«
»Kein Problem«, sage ich. »Wir sind doch deine Freunde.« Doch noch während ich es ausspreche, bezweifle ich, ob das überhaupt stimmt. Ich kenne ihn nicht so gut, wie ich die anderen kenne.
»Freunde«, sagt Ky leise, und ich frage mich, ob er an die Freunde denkt, die er in den Äußeren Provinzen gehabt haben muss.
Das Kino wird dunkel. Obwohl ich nichts mehr erkenne, weiß ich, dass Ky mich nicht mehr ansieht, dafür aber Xander. Ich schaue geradeaus in die Dunkelheit.
Jedes Mal im Kino genieße ich die paar Sekunden, bevor die Vorführung beginnt, wenn alles dunkel ist und alle darauf warten, dass es losgeht. Dabei fühle ich immer ein Ziehen in der Magengegend und stelle mir vor, wie es wäre, wenn die Lichter angingen und ich ganz allein dasäße. Oder wenn die Lichter gar nicht mehr angingen. In diesem Moment fühlt es sich so an, als wäre nichts mehr sicher, nichts mehr gewiss.
Aber natürlich wird die Leinwand hell, die Vorführung beginnt, und ich bin nicht allein. Xander sitzt auf einer Seite neben mir, Ky auf der anderen, und auf dem Bildschirm vor mir läuft die Geschichte von den Anfängen der Gesellschaft ab.
Die Filmtechnik ist ausgezeichnet: Im Tiefflug geht es über den blauen Ozean, die grüne Küste, die schneebedeckten Berggipfel und hinein in die goldenen Felder der Landwirtschaftsgebiete, über die weiße Kuppel unserer eigenen Stadthalle (das Publikum jubelt, als sie in Sicht kommt), über weitere wogende, grüne und goldene Felder zu einer anderen Stadt und dann der nächsten und übernächsten. In jeder Provinz der Gesellschaft jubeln die Leute, wenn ihre Stadt ins Bild kommt – selbst wenn sie die Vorführung schon einmal gesehen haben. Wenn man unsere Gesellschaft so sieht, fällt es nicht schwer, Stolz zu empfinden. Was natürlich der Sinn der Sache ist.
Ky holt tief Luft, und ich sehe ihn an. Überrascht stelle ich fest, dass seine Augen weit aufgerissen sind und er vergessen hat, eine ruhige, gleichmütige Miene zu bewahren. Stattdessen strahlt er vor Begeisterung. Als glaube er, tatsächlich zu fliegen. Er bemerkt nicht einmal, dass ich ihn beobachte.
Nach diesem mitreißenden Anfang wird die Vorführung jedoch mittelmäßig. Wieder einmal wird uns vor Augen gehalten, wie das Leben aussah, bevor es die Gesellschaft gab und bevor alles genau nach Berechnungen und Vorhersage funktionierte. Kys Gesicht trägt wieder die übliche glatte Maske. Immer wieder sehe ich während der Vorstellung zu ihm hinüber, neugierig, ob er noch einmal eine Reaktion zeigt. Tut er aber nicht.
Als der Teil kommt, in dem das Konzept des Paarungssystems beschrieben wird, dreht sich Xander zu mir. Im schwachen Schein der Leinwand sehe ich sein Lächeln und erwidere es. Xander umfasst meine Hand fester, und ich denke nicht mehr an Ky.
Bis zum Ende der Vorführung.
Am Schluss zeigt der Film noch einmal, wie die Menschen in der Zeit vor der Gesellschaft gelebt haben und wie es wäre, wenn es die Gesellschaft nicht
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