Die Auswahl. Cassia und Ky
sein wahres Ich erhascht, bevor ich wieder nur das sehe, was er mir zu zeigen bereit ist.
Der Offizier erscheint zwischen den Bäumen. Er bewegt sich fast lautlos, und ich frage mich, was er in den Wäldern beobachtet hat. Hat er mich gesehen? Er wirft einen Blick auf den Datenpod in seiner Hand und sieht dann wieder mich an. »Cassia Reyes?«, fragt er. Offenbar hatte man damit gerechnet, dass ich als Zweite eintreffen würde. Meine Pause kann nicht so lange gedauert haben, wie ich dachte.
»Ja.«
»Setzen Sie sich dort hin, und warten Sie«, befiehlt der Offizier und zeigt auf die mit Gras bewachsene Lichtung auf der Kuppe des Hügels. »Genießen Sie die Aussicht. Meinen Informationen zufolge wird es noch ein paar Minuten dauern, bevor die Nächsten hier oben eintreffen.« Er zeigt auf den Datenpod und verschwindet dann wieder zwischen den Bäumen.
Ich lege eine kurze Pause ein und versuche mich zu beruhigen. Mein Herz hämmert von meinem schnellen Lauf. Und vor Aufregung wegen des Geräuschs zwischen den Bäumen. Dann gehe ich auf Ky zu.
»Hallo«, sagt Ky, als ich näher komme.
»Hallo.« Ich setze mich neben ihn ins Gras. »Ich wusste gar nicht, dass du auch Wandern gewählt hast.«
»Meine Mutter dachte, es wäre eine gute Wahl.«
Ich bemerke, wie selbstverständlich er das Wort »Mutter« benutzt, um seine Tante Aida zu beschreiben, und denke daran zurück, wie er in das Leben hier hineingeraten ist, wie er zu dem wurde, was man in der Ahorn-Siedlung erwartet. Obwohl er neu und anders war, stach er nicht lange heraus.
Tatsächlich habe ich noch nie erlebt, dass er in irgendeiner Disziplin Erster wurde, und so sage ich ohne vorher nachzudenken: »Heute hast du uns alle geschlagen.« Als sei das nicht offensichtlich.
»Ja«, sagt er und sieht mich an. »Genau wie vorausgesagt. Ich bin in den Äußeren Provinzen aufgewachsen und habe die meiste Erfahrung mit solchen Aktivitäten.« Er spricht förmlich, als würde er etwas Auswendiggelerntes aufsagen, aber ich erkenne einen leichten Schweißfilm auf seinem Gesicht, und die Art, wie er die Beine von sich streckt, wirkt vertraut. Ky ist ebenfalls gerannt, und er muss schnell gewesen sein. Gibt es Laufbänder in den Äußeren Provinzen? Und wenn nicht, wohin ist er dann dort draußen gerannt? Oder musste er etwa vor irgendetwas
davon
laufen?
Bevor ich mich versehe, stelle ich Ky eine Frage, die ich ihm nicht stellen dürfte: »Was ist mit deiner Mutter passiert?«
Überrascht blickt er mich an. Er weiß, dass ich nicht von seiner Tante Aida rede, und ich weiß, dass ihn nie zuvor jemand danach gefragt hat. Ich weiß nicht, was mich gerade jetzt dazu gebracht hat – vielleicht liegt es am Tod meines Großvaters und an den Versen, die ich im Wald gelesen habe. Das hat mich nervös und verwundbar gemacht. Vielleicht will ich aber auch nur nicht darüber nachdenken, wer mich zwischen den Bäumen gesehen haben könnte.
Ich sollte mich für die Frage entschuldigen. Aber ich tue es nicht, und es liegt nicht daran, dass ich das Gefühl habe, gemein gewesen zu sein. Ich denke, dass er es mir vielleicht gerne erzählen möchte.
Aber ich irre mich. »Du solltest mich nicht danach fragen«, erwidert er. Er sieht mich nicht an, so dass ich nur sein Profil betrachten kann. Sein dunkles Haar ist feucht vom Nebel und vom Wasser, das von den Bäumen getropft ist, als er unter ihnen hergelaufen ist. Er riecht nach Wald, und ich hebe die Hände und schnuppere daran – ich will wissen, ob ich auch so dufte. Es kann Einbildung sein, aber mir kommt es so vor, als röchen meine Finger nach Tinte und Papier.
Ky hat recht. Ich hätte es wissen müssen, dass man ihm eine solche Frage nicht stellen darf. Dann aber fragt auch er etwas, dass er nicht fragen dürfte: »Wen hast du verloren?«
»Wie meinst du das?«
»Ich kann es dir ansehen«, sagt er nur und blickt mich mit seinen blauen Augen an.
Die Sonne brennt auf meinen Nacken und mein Haar. Ich schließe die Augen, so wie Ky es eben auch getan hat, und lege den Kopf zurück, so dass ich die Wärme auf den Augenlidern und dem Nasenrücken spüren kann.
Keiner von uns sagt etwas. Ich halte meine Augen nicht lange geschlossen, aber als ich sie öffne, blendet mich trotzdem im ersten Moment das Sonnenlicht. Und zugleich spüre ich ganz deutlich, dass ich es Ky gern erzählen möchte. »Mein Großvater ist letzte Woche gestorben.«
»Unerwartet?«
»Nein«, antworte ich, obwohl es das in gewisser Weise doch trifft.
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