Die Auswahl. Cassia und Ky
Sinn:
dort auf dunklem hohem Berg.
Dann lege ich wieder den Kopf in den Nacken und lasse mir die Sonne auf die geschlossenen Augenlider brennen. Sie ist stärker als ich und leuchtet rot vor dem schwarzen Himmel.
Die Fragen in meinem Kopf scheinen zu summen wie die Insekten vorhin im Wald.
Was ist in den Äußeren Provinzen mit dir geschehen? Welchen Verstoß hat dein Vater begangen, der dich zu einer Aberration gemacht hat? Hältst du mich für verrückt, weil ich die Gedichte behalten will? Was ist nur an deiner Stimme, dass ich dir die ganze Zeit zuhören könnte?
Solltest
du
mein Partner sein
?
Erst später wird mir klar, dass eine Frage, die mir nicht einmal in den Sinn gekommen ist, die allerwichtigste ist:
Wirst du mein Geheimnis bewahren?
KAPITEL 10
U nsere Siedlung wirkt heute Abend ganz anders als sonst: Irgendetwas stimmt nicht. Die Leute, die an der Airtrain-Haltestelle warten, sind in sich gekehrt und reden nicht miteinander. Sie steigen ein, ohne uns aussteigende Passagiere wie üblich zu grüßen. Ein kleines weißes Aircar, ein Funktionärsfahrzeug, parkt in unserer Straße dicht neben einem Haus mit blauen Fensterläden. Meinem Elternhaus.
Ich eile die Metalltreppe der Airtrainhaltestelle hinunter und halte auf meinem Nachhauseweg nach weiteren Hinweisen auf außergewöhnliche Veränderungen Ausschau. Die Bürgersteige verraten mir nichts. Die Häuser neben unserem dagegen sind hermetisch verriegelt und sagen mir schon mehr – wenn dies ein Sturm ist, wird er hinter verschlossenen Türen ausgesessen.
Das Aircar steht auf seinem feingliedrigen Landegestell mitten in unserem Garten. Hinter den schlichten weißen Gardinen am Fenster kann ich die Umrisse von Personen erkennen. Ich eile die Stufen hinauf, bleibe dann aber unsicher vor der Tür stehen. Was soll ich tun?
Ich sage mir, dass ich ruhig bleiben und überlegt handeln muss. Aus unerfindlichen Gründen stelle ich mir das Blau von Kys Augen vor, und schon kann ich besser nachdenken. Mir wird klar, dass ich die Situation zuerst verstehen und analysieren muss, damit ich sie heil überstehen kann.
Die Anwesenheit der Funktionäre könnte tausend Gründe haben. Vielleicht wird das Nahrungsmittel-Verteilungssystem überprüft, von Haus zu Haus. Das ist schon einmal passiert, in einer Siedlung ganz in der Nähe. Ich habe davon gehört.
Vielleicht hat es gar nichts mit mir zu tun.
Werden sie meinen Eltern von Kys Bild auf dem Mikrochip erzählen? Wissen sie, was Großvater mir gegeben hat? Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, die Gedichte zu zerstören. Das Papier ist immer noch in meiner Tasche. Hat mich im Wald außer Ky noch jemand damit gesehen? War es der Offizier, der den Zweig zertreten hat?
Vielleicht hat dies alles nur mit mir zu tun.
Ich weiß nicht, was geschieht, wenn Bürger gegen die Vorschriften verstoßen, weil in unserer Siedlung niemand gegen die Vorschriften verstößt. Ab und zu wird ein kleiner Tadel ausgesprochen, zum Beispiel, wenn mein Bruder zu spät zur Schule kommt. Aber das sind minimale Abweichungen, kleinere Fehler. Keine großen Vergehen oder absichtlich begangene Verfehlungen.
Verstöße.
Ich werde nicht anklopfen. Das hier ist mein Zuhause. Ich hole tief Luft, drehe den Knauf und öffne die Tür.
Ich werde bereits erwartet.
»Da bist du ja«, sagt Bram erleichtert.
Ich umklammere das Stück Papier in meiner Tasche und werfe einen Blick hinüber zur Küche. Vielleicht schaffe ich es zum Müllverbrenner und kann die Gedichte in das Feuer fallen lassen. Der Verbrenner würde zwar eine fremde Substanz registrieren, da sich das dicke, schwere Papier grundlegend von allen anderen Papierarten unterscheidet, die wir in unseren Behausungen vernichten dürfen: Servietten, Ausdrucke, Umschläge. Aber das ist immer noch sicherer, als die Gedichte zu behalten. Wenn sie einmal verbrannt sind, kann niemand mehr die Worte rekonstruieren.
Ich erhasche einen Blick auf einen Funktionär der Biomedizin, der in seinem langen weißen Laborkittel durch die Diele in die Küche geht. Ich lasse die Gedichte los und ziehe die Hand aus der Tasche. Leer.
»Was ist denn?«, frage ich meinen Bruder. »Wo sind Papa und Mama?«
»Sie sind hier«, sagt Bram mit zitternder Stimme. »In ihrem Schlafzimmer. Die Funktionäre durchsuchen Papa.«
»Aber warum denn?« Mein Vater hat die Gedichte nicht. Er weiß gar nichts von ihnen. Aber ist das von Bedeutung? Kys Klassifikation ist durch einen Verstoß seines Vaters zustande gekommen.
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