Die Auswahl. Cassia und Ky
Wird mein Fehler Folgen für meine ganze Familie haben?
Vielleicht ist die Puderdose doch der sicherste Ort für die Gedichte. Meine Großeltern hielten sie dort viele Jahre lang verborgen. »Ich komme gleich wieder«, sage ich zu meinem Bruder, schlüpfe in mein Zimmer und hole rasch die Puderdose aus meinem Schrank. Eine Drehung. Ich öffne den Boden und lege die Gedichte hinein.
»Ist jemand hereingekommen?«, fragt einer der Funktionäre meinen Bruder.
»Meine Schwester«, antwortet Bram verängstigt.
»Wo ist sie?«
Ich muss die Dose noch einmal aufdrehen. Sie schließt nicht richtig, weil eine Ecke des Papiers noch herausschaut.
»Sie ist in ihrem Zimmer und zieht sich um. Sie ist ganz schmutzig vom Wandern.« Brams Stimme klingt jetzt fester. Er deckt mich, ohne zu wissen, warum. Und er macht seine Sache richtig gut.
Ich höre Schritte in der Diele, öffne die Puderdose noch einmal und schiebe das Papier ganz hinein.
Ich drehe sie zu, und
endlich
klickt es leise. Mit einer Hand ziehe ich den Reißverschluss meiner Zivilkleidung auf, mit der anderen lege ich die Puderdose schnell zurück in das Schrankfach. Ich drehe den Kopf, als die Tür aufgeht, und rufe mit überraschter und empörter Miene: »Ich ziehe mich gerade um!«
Der Funktionär nickt mir zu, als er den Schmutzrand an meinen Kleidern sieht. »Bitte kommen Sie in die Diele, wenn Sie fertig sind«, sagt er. »Beeilen Sie sich.«
Meine Hände zittern ein wenig, als ich die nach Wald riechenden Kleider ausziehe und sie in den Behälter für die schmutzige Wäsche werfe. Dann verlasse ich in sauberem Zivil mein Zimmer. Nichts an mir erinnert auch nur im Entferntesten an verbotene Gedichte.
»Papa hat Großvaters Gewebeprobe nicht abgegeben«, flüstert mein Bruder mir zu, als ich wieder in die Diele komme. »Er hat sie verloren. Deswegen sind sie hier.« Für einen Moment siegt die Neugier über seine Angst. »Warum musstest du dich eigentlich so dringend umziehen? So schmutzig warst du doch gar nicht.«
»Doch, ich
war
schmutzig«, flüstere ich. »Psst! Sei mal leise!« Ich höre gedämpfte Stimmen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern, dann die erhobene Stimme meiner Mutter. Ich kann kaum glauben, was Bram mir erzählt hat. Mein Vater soll Großvaters Gewebeprobe
verloren
haben?
Die Sorge um meine Familie legt sich über die Angst in meinem Inneren. Es ist schlimm, sehr schlimm, dass mein Vater einen so schwerwiegenden Fehler begangen hat. Nicht nur, weil es ihn und auch uns in Schwierigkeiten bringen könnte, sondern auch, weil es bedeutet, dass Großvater wirklich fort ist. Ohne die Probe können sie ihn niemals zurückholen.
Plötzlich hoffe ich, dass die Funktionäre in unserem Haus doch etwas finden.
»Warte hier«, fordere ich Bram auf und gehe in die Küche. Ein biomedizinischer Funktionär steht neben dem Recyclingbehälter und schwenkt einen Apparat von oben nach unten, vor und zurück, nach rechts und links. Er geht einen Schritt zurück und wiederholt dieselben Bewegungen an einer anderen Stelle der Küche. Ich lese den seitlichen Aufdruck auf dem Instrument in seiner Hand.
Biodetektor.
Ich entspanne mich ein wenig. Natürlich. Sie haben ein Instrument mitgebracht, mit dem sie den Strichcode aufspüren können, der auf Großvaters Probenröhrchen aufgedruckt ist. Sie brauchen das Haus gar nicht auseinanderzunehmen. Vielleicht werden sie das Blatt Papier doch nicht finden, dafür aber die Probe.
Wie konnte Papa etwas so Wichtiges verlieren? Wie konnte er seinen eigenen Vater verlieren?
Trotz meiner ausdrücklichen Bitte kommt Bram zu mir in die Küche. Er fasst mich am Arm, und wir kehren in die Diele zurück. »Mama diskutiert immer noch mit ihnen«, sagt er und deutet zum Zimmer unserer Eltern.
Ich nehme die Hand meines Bruders und drücke sie. Die Funktionäre
müssen
meinen Vater gar nicht durchsuchen: Sie haben die richtigen Instrumente, die ihnen sagen, wo sie nachsehen müssen. Aber ich kann mir denken, dass sie ein Exempel statuieren müssen. Sie müssen klarstellen, dass mein Vater mit etwas so Wichtigem vorsichtiger hätte umgehen müssen.
»Durchsuchen sie auch Mama?«, frage ich dann. Müssen wir alle dieselbe Erniedrigung über uns ergehen lassen wie mein Vater?
»Ich glaube nicht«, meint Bram. »Sie wollte einfach bei Papa bleiben.«
Die Schlafzimmertür wird geöffnet, und mein Bruder und ich weichen erschrocken vor den Funktionären zurück. In ihren weißen Laborkitteln wirken sie groß und steril. Einer
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