Die Auswahl. Cassia und Ky
seine Schularbeiten, und ich renne auf der Stelle. Jeder in diesem Haus tut das, was er oder sie tun sollte. Alles wird gut. Meine Füße hämmern auf das Band, hämmern Schritt für Schritt die Sorgen aus mir heraus. Schritt für Schritt für Schritt für Schritt für Schritt.
Ich werde müde und weiß nicht, ob ich noch weiterlaufen kann, als das Laufband piept und ganz allmählich langsamer wird, bis es schließlich anhält. Perfektes Timing, programmiert von der Gesellschaft. Ich senke den Kopf, schnappe nach Luft, atme keuchend ein. Von dieser Hügelkuppe aus kann man nichts sehen.
Mein Bruder sitzt auf dem Rand meines Bettes und wartet auf mich. Er hält etwas in der Hand. Zuerst glaube ich, es wäre meine Puderdose, und trete besorgt einen Schritt nach vorn –
hat er das Gedicht entdeckt
? –, doch dann erkenne ich, dass es Großvaters Uhr ist. Brams Artefakt.
»Vor ein paar Minuten habe ich über das Terminal eine Nachricht an die Funktionäre geschickt«, sagt Bram. Mit seinen runden Augen blickt er zu mir auf, müde und traurig.
»Warum hast du das getan?«, frage ich schockiert. Warum will er einen Funktionär sehen, nach allem, was heute passiert ist?
Bram hält die Uhr hoch. »Ich dachte, dass man hiervon vielleicht genug Zellen bekommen könnte. Weil Großvater sie so oft berührt hat.«
Hoffnung pulsiert durch meine Adern wie Adrenalin. Ich ziehe ein Handtuch aus der Ecke meines Schranks und wische damit über mein Gesicht. »Was haben sie gesagt? Haben sie geantwortet?«
»Sie haben eine Nachricht zurückgeschickt, in der steht, dass es nicht ausreichen würde. Es würde nicht funktionieren.« Mit dem Ärmel reibt er über die glänzende Oberfläche der Uhr, um seine Fingerabdrücke zu entfernen. Er betrachtet das Zifferblatt, als könne es ihm etwas mitteilen.
Doch das kann es nicht. Bram weiß noch nicht einmal, wie man die Zeit abliest. Außerdem funktioniert Großvaters Uhr schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie ist nichts als ein wunderschönes Artefakt. Schwer, aus Silber und Glas. Sie gleicht in nichts den flachen Plastikbändern, die wir heutzutage tragen.
»Sehe ich Großvater ähnlich?«, fragt Bram hoffnungsvoll. Er schlüpft mit einer Hand durch das Uhrarmband, das um sein dünnes Handgelenk schlackert. Zart, braunäugig, aufrecht und klein wie er ist, ähnelt er in diesem Moment tatsächlich ein wenig unserem Großvater.
»Ja, du siehst ihm ähnlich.« Dabei frage ich mich, ob auch ich Ähnlichkeit mit Großvater habe. Das Wandern heute hat mir gefallen. Ich lese gern die Hundert Gedichte. Diese Vorlieben waren ein Teil von ihm und sind auch ein Teil von mir. Ich denke an die anderen Großeltern draußen im Landwirtschaftsgebiet und an Ky und die Äußeren Provinzen und an all die Dinge, die ich nicht kenne, und die Orte, die ich niemals sehen werde.
Bram lächelt bei meiner Antwort und blickt stolz auf die Uhr.
»Bram, du darfst sie nicht mit in die Schule nehmen, denk dran. Du könntest Ärger bekommen.«
»Ich weiß.«
»Du hast ja gesehen, was passiert ist, als die Funktionäre wegen Papa hier waren, und du willst bestimmt keinen Ärger mit ihnen, nur weil du die Vorschriften für Artefakte nicht befolgst.«
»Ich werde sie nicht mitnehmen«, verspricht er. »Nein, das würde mir nicht im Traum einfallen. Ich will sie doch nicht verlieren.« Er greift nach meinem Silberetui vom Paarungsbankett. »Kann ich sie darin aufbewahren? Ich glaube, das wäre ein guter Platz. Du weißt schon, etwas Besonderes.« Ein bisschen verlegen zuckt er mit den Schultern.
»Na gut«, sage ich wenig nervös. Ich beobachte ihn dabei, wie er das Silberetui aus meinem Schrank nimmt, es öffnet und das Artefakt vorsichtig neben den Mikrochip legt. Dankbar stelle ich fest, dass er die Puderdose daneben keines Blickes gewürdigt hat.
Später an diesem Abend, als es schon dunkel ist und Bram zu Bett gegangen ist, öffne ich die Puderdose und hole das Papier heraus. Ich sehe es nicht an, sondern stecke es gleich in die Tasche meiner Zivilkleidung für den nächsten Tag. Morgen werde ich versuchen, einen Müllverbrenner zu finden, der weit genug von unserem Haus entfernt ist und in den ich es unbemerkt hineinwerfen kann. Ich möchte nicht, dass mich jemand hier zu Hause dabei erwischt. Dafür ist es jetzt zu gefährlich.
Ich lege mich hin, blicke an die Decke und versuche erneut, mich an Großvaters Gesicht zu erinnern. Aber ich kann es nicht mehr deutlich vor mir sehen. Ungeduldig drehe ich
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