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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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von ihnen bemerkt, dass wir Angst haben, und lächelt uns beruhigend zu. Aber es funktioniert nicht. Er kann uns weder die verlorene Probe noch die verlorene Ehre meines Vaters zurückgeben. Der Schaden ist nicht wiedergutzumachen.
    Mein Vater kommt heraus, blass und unglücklich. Meine Mutter dagegen sieht erhitzt und wütend aus. Sie folgt meinem Vater und den Funktionären ins Wohnzimmer, und mein Bruder und ich stellen uns an die Tür, um zu beobachten, was weiter geschieht.
    Sie haben die Probe nicht gefunden. Mir wird das Herz schwer. Mein Vater steht in der Mitte des Raums, während das biomedizinische Team ihn tadelt. »Wie konnte so etwas passieren?«
    Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es ist unentschuldbar.« Seine Worte klingen tonlos, als hätte er sie schon zu oft wiederholt, als hätte er die Hoffnung aufgegeben, dass die Funktionäre ihm glauben. Kerzengerade steht er da, so wie immer, aber sein Gesicht sieht müde und alt aus.
    »Ihnen ist doch klar, dass es jetzt keine Möglichkeit gibt, ihn zurückzubringen?«, sagen sie.
    Mein Vater nickt zutiefst betrübt. Obwohl ich ihm Vorwürfe mache, weil er die Probe verloren hat, weiß ich, wie elend er sich fühlt. Natürlich.
Es war Großvater.
Trotz meines Zorns wünschte ich, ich könnte Papas Hand nehmen, aber er ist von zu vielen Funktionären umringt.
    Außerdem bin ich eine Heuchlerin. Auch ich habe heute gegen die Vorschriften verstoßen, und zwar mit voller Absicht.
    »Diese Sache kann zu einschränkenden Maßnahmen bei Ihrer Arbeitsstelle führen«, teilt eine Funktionärin meinem Vater mit, und das in einem so unverschämten Tonfall, dass sie selbst eine Verwarnung dafür verdient hätte. Niemand sollte so mit anderen Menschen sprechen. Selbst wenn ein Fehler geschieht, sollten die Funktionäre nicht persönlich werden. »Wie kann man davon ausgehen, dass Sie die Restaurierung und Vernichtung von Artefakten verantwortungsbewusst durchführen, wenn Sie nicht einmal auf Ihre eigene Probe aufpassen können? Besonders, wo Sie doch wussten, wie wichtig sie war?«
    Einer der anderen Funktionäre fügt leise hinzu: »Sie haben die Probe ruiniert, die von Ihrem
Vater
stammte. Und Sie haben den Verlust nicht einmal gemeldet.«
    Mein Vater fährt sich mit einer Hand über die Augen. »Ich hatte Angst«, sagt er. Er ist sich des Ernstes der Lage bewusst. Das müssen diese Leute ihm nicht erklären. Die Einäscherung findet wenige Stunden nach dem Tod statt. Es gibt keine Möglichkeit, eine neue Probe zu entnehmen. Es ist zu spät. Er ist fort. Großvater ist für immer von uns gegangen.
    Meine Mutter presst die Lippen fest aufeinander, und ihre Augen blitzen, aber ihr Zorn gilt nicht meinem Vater. Sie ist wütend auf die Funktionäre, weil sie dafür sorgen, dass er sich noch schlechter fühlt, als er es ohnehin schon tut.
    Obwohl alles gesagt ist, ziehen sich die Funktionäre nicht zurück. Es herrscht eisiges Schweigen. Keiner regt sich. Wir alle denken daran, dass Großvater nun nicht mehr zurückgebracht werden kann.
    Ein Gong ertönt in der Küche – unser Abendessen ist eingetroffen. Meine Mutter verlässt das Wohnzimmer, und ich höre, wie sie die Nahrungslieferungen entgegennimmt und auf den Tisch stellt. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrt, klackern ihre Schuhe vorwurfsvoll und energisch auf dem Holzfußboden. Sie hat offensichtlich genug.
    »Zeit zum Abendessen«, sagt sie mit einem scharfen Blick auf die Funktionäre. »Man hat uns leider keine Extraportionen geschickt.«
    Die Funktionäre sträuben sich noch ein wenig. Versucht sie etwa, sie loszuwerden? Sie sind sich nicht sicher. Ihr Gesicht wirkt freundlich, ihre Stimme klingt bedauernd, aber bestimmt. Und sie ist so schön: Ihre blonden Haare fallen ihr über den Rücken, ihre Wangen sind gerötet. Nichts von alldem sollte eine Rolle spielen, tut es aber irgendwie doch.
    Außerdem wagen es nicht einmal die Funktionäre, während des Essens mehr als unbedingt nötig zu stören. »Wir werden diesen Verstoß melden«, sagt der größte von ihnen. »Sie können davon ausgehen, dass ein Tadel der höchsten Stufe ausgesprochen wird. Das nächste Fehlverhalten wird dann mit der Höchststrafe geahndet.«
    Mein Vater nickt, und meine Mutter blickt noch einmal nachdrücklich Richtung Küche, um die Besucher daran zu erinnern, dass das Essen auf dem Tisch steht, allmählich kalt wird und dadurch an Nährstoffen verliert. Die Funktionäre nicken uns kurz zu und verlassen dann durch die

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