Die Auswahl. Cassia und Ky
atmet schnell und flach. Xander steht auf und tauscht mit ihr den Platz, wobei er sie stützt. Er schirmt sie mit seinem Körper ab und sorgt dafür, dass sie in der Mitte unserer Gruppe ist und nicht am Rand.
Auch ich lehne mich näher zu ihr und versuche instinktiv, sie zu verdecken, und gleich darauf drängt sich auch Ky an mich, um sie vor den Blicken anderer zu schützen. Wir berühren uns zum zweiten Mal, und obwohl ich mich um Em sorge, kann ich nicht umhin, es zu bemerken. Unwillkürlich sehne ich mich danach, mich noch enger an Ky zu schmiegen, trotz der Tatsache, dass ich immer noch Xanders Kuss auf meinen Lippen spüre.
Wir haben Em jetzt dicht umringt und schirmen sie nach außen ab. Egal, was geschieht: Je weniger Leute es mitbekommen, desto besser. Für Em. Für uns. Ich blicke auf. Der Funktionär, der für die Musik zuständig ist, hat bisher noch nichts gemerkt. Es sind so viele Menschen hier, die meisten davon Arbeiter, die man genauer beobachten muss als Jugendliche. Das gibt uns ein bisschen Zeit.
»Lass uns deine grüne Tablette rausholen«, sagt Xander leise zu Em. »Das ist ein Panikanfall. Im medizinischen Zentrum habe ich das schon öfter erlebt. Man muss nur die grüne Tablette nehmen, aber die Leute haben solche Angst, dass sie es vergessen.« Obwohl seine Stimme selbstsicher klingt, beißt er sich auf die Lippe. Er scheint sich große Sorgen um Em zu machen, denn eigentlich darf er anderen gar nicht so viel über seine Arbeit erzählen, wenn sie nicht dieselbe Berufung haben wie er.
»Geht nicht«, flüstere ich. »Sie hat sie heute schon genommen. Sie hatte noch keine Zeit, sich eine neue zu holen.« Mehr brauche ich nicht hinzuzufügen.
Sie wird Ärger bekommen, wenn sie zwei an einem Tag nimmt.
Xander und Ky sehen sich an. Ich habe Xander noch nie so unschlüssig gesehen – warum unternimmt er nichts? Ich weiß, dass er es kann. Eines Tages ist ein Kind in unserer Straße hingefallen, und überall war Blut. Xander wusste, was zu tun war. Er zögerte keinen Augenblick. Er kümmerte sich um das Kind, bis die ausgebildeten Sanitäter kamen und den Jungen ins medizinische Zentrum brachten.
Auch Ky sieht tatenlos zu.
Was soll das?
, denke ich.
Helft ihr endlich!
Ky rührt sich nicht, aber er sieht Xander unverwandt an und bewegt die Lippen. »Deine«, flüstert er fast unhörbar, die Augen fest auf Xander gerichtet.
Für den Bruchteil einer Sekunde blickt Xander ihn verständnislos an, doch im selben Moment, als er es begreift, wird es auch mir klar.
Xander zögert keinen Augenblick, sobald er begriffen hat, was Ky ihm sagen will. »Natürlich«, flüstert er und fasst nach seinem Tablettenbehälter. Jetzt, wo er weiß, was zu tun ist, handelt er schnell und ruhig, er ist ganz er selbst. Das ist der Unterschied zwischen uns.
Xander steckt Em seine eigene grüne Tablette in den Mund. Ich glaube nicht, dass sie mitbekommt, was geschieht. Sie zittert zu sehr, sie hat zu große Angst. Sie schluckt automatisch, aber bestimmt schmeckt sie auch nichts.
Fast unmittelbar darauf entspannt sie sich. »Danke«, sagt sie zu uns und schließt die Augen. »Es tut mir leid. Ich mache mir eben so große Sorgen wegen des Banketts. Tut mir leid.«
»Ist schon gut«, flüstere ich und sehe erst Xander und dann Ky an.
Die beiden haben es gemeinsam geschafft. Im ersten Moment frage ich mich, warum Ky unserer Freundin nicht seine Tablette gegeben hat, aber dann fällt es mir wieder ein. Er ist eine Aberration. Aberrationen dürfen keine eigenen Tabletten bei sich tragen.
Weiß Xander jetzt Bescheid? Hat sich Ky dadurch verraten?
Nein, ich glaube nicht, dass Xander es erraten hat. Wie sollte er? Für ihn spielt es keine Rolle, ob er oder Ky Em die Tablette gegeben hat. Es ist sogar logischer, dass er es getan hat, denn er kennt Em schon viel länger. Er setzt sich wieder auf seinen Platz und beobachtet Em, während er ihren Puls fühlt, die Hand um ihr zartes Handgelenk gelegt. Er sieht zu Ky und mir und nickt. »Alles in Ordnung«, sagt er. »Ihr geht es jetzt wieder besser.«
Ich lege meinen Arm um Em, schließe die Augen und lausche der Musik. Das Lied, das die Frau gesungen hat, ist vorbei, und jetzt erklingt die Hymne der Gesellschaft. Die Bässe wummern, der Chor setzt ein zur letzten Strophe. Die Stimmen klingen triumphierend und sind in vollkommener Harmonie. Wie wir. Wir haben einen Kreis um Em gebildet, um sie vor den Blicken der Funktionäre zu schützen, und keiner von uns wird etwas
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