Die Auswahl. Cassia und Ky
Eine leichte Brise weht über die Beete, und die Blumen wiegen in roten Wellen in der Dämmerung.
»Ich wünschte, wir könnten das jeden Samstag tun«, sage ich. Es gibt mir das Gefühl, als hätten wir etwas Wunderschönes erschaffen. Von den zerdrückten Rosenblättern sind meine Hände rot gefleckt, und sie duften nach Erde und Blumen. Ich mag den intensiven Duft, obwohl meine Mutter nicht müde wird zu betonen, dass der der Urrosen viel subtiler und zarter war. Aber was ist schlimm daran, robust und langlebig zu sein? Was ist falsch daran, lange zu überdauern?
Während ich dort stehe und mein Werk betrachte, wird mir bewusst, dass meine Familie seit jeher nichts anderes getan hat, als zu sortieren. Noch nie haben wir selbst etwas erschaffen. Mein Vater sortiert alte Artefakte, ebenso wie mein Großvater es getan hat; meine Urgroßmutter hat Gedichte sortiert. Meine Großeltern im Landwirtschaftsgebiet pflanzen Samen in die Erde und sorgen für die Ernte, aber alles, was sie anpflanzen, wird von den Funktionären diktiert – genau wie bei meiner Mutter im botanischen Garten.
Und genau wie die Beete, die wir hier angelegt haben.
Ich habe getan, was man mir gesagt hat, ich habe die Vorschriften befolgt, und etwas Wunderschönes ist dabei herausgekommen. Genau, wie die Funktionäre es versprochen hatten.
»Da kommt das Eis«, verkündet Xander. Die Arbeiter schieben die Eiswagen über den Bürgersteig an den Blumenbeeten entlang. Xander nimmt mich an die eine, Em an die andere Hand und zieht uns in die Schlange.
Diesmal dauert es nicht so lange, bis die Arbeiter uns die Alubecher mit Eiscreme ausgeteilt haben, denn im Unterschied zu unserem Abendessen sind die Eisportionen für alle gleich. Normalerweise enthalten unsere Mahlzeiten alle Vitamine und Nahrungszusätze, die der Einzelne braucht, daher müssen sie genau der richtigen Person gegeben werden. Die Eiscreme dagegen gilt nicht als richtiges Nahrungsmittel.
Jemand ruft nach Em, und sie gesellt sich zu anderen Freunden. Xander und ich finden ein Plätzchen weiter abseits. Wir lehnen uns mit dem Rücken gegen die stabilen Zementblockwände der Schule und strecken unsere Beine aus. Xanders Beine sind lang, und seine Schuhe sind abgetragen. Bestimmt werden ihm bald neue zugeteilt.
Er steckt den Löffel in die weiße Kugel – für jeden gab es genau eine – und seufzt. »Dafür würde ich hektarweise Blumen pflanzen.«
Ich bin ganz seiner Meinung. Kalt, süß und köstlich gleitet die Eiscreme über meine Zunge und durch meine Kehle bis in den Magen. Ich bilde mir ein, sie noch lange nach dem Schmelzen dort spüren zu können. Meine Finger riechen nach Erde, meine Lippen schmecken nach Zucker, und ich bin so hellwach, dass ich mich frage, ob ich heute Nacht überhaupt schlafen kann.
Xander hält mir seinen letzten Löffel Eis hin.
»Nein, der gehört dir«, protestiere ich, aber lächelnd besteht er darauf, dass ich ihn nehme. Es ist eine sehr großzügige Geste, und es erscheint mir undankbar abzulehnen, deshalb tue ich es nicht.
Ich nehme ihm den Löffel aus der Hand und genieße den letzten Rest Eis. Bei einer normalen Mahlzeit wäre so etwas undenkbar – eine Speise zu teilen –, aber heute Abend ist es in Ordnung. Die Funktionäre, die zwischen uns herumwandern und uns überwachen, zucken nicht mal mit der Wimper. »Danke«, sage ich. Xanders Liebenswürdigkeit rührt mich unerklärlicherweise fast zu Tränen. Um meine Gefühle zu überspielen, sage ich: »Wir haben einen Löffel miteinander geteilt. Das ist fast schon wie ein Kuss.«
Xander verdreht die Augen. »Wenn du das glaubst, bist du noch nie geküsst worden.«
»Natürlich bin ich schon geküsst worden!«, erwidere ich. Schließlich sind wir Teenager. Bis wir gepaart werden, verlieben wir uns, flirten und tauschen Küsse. Aber mehr als ein Spiel wird nicht daraus, weil wir wissen, dass wir eines Tages gepaart werden. Oder wir bleiben Single, und die Spiele gehen endlos weiter.
»Hat in den Richtlinien irgendetwas übers Küssen gestanden? Etwas, an das ich mich erinnern sollte?«, necke ich Xander.
Auch seine Augen funkeln schalkhaft, als er sich etwas weiter zu mir beugt. »Es gibt keine Regeln für das Küssen. Wir sind gepaart.«
Ich habe Xanders Gesicht oft betrachtet, aber niemals auf diese Art und Weise. Noch nie in der Dämmerung, noch nie mit einem Gefühl in meiner Magengegend und in meinem Herzen, das zu zwei Dritteln aus Aufregung und zu einem Drittel aus
Weitere Kostenlose Bücher