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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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dreht er sich noch ein letztes Mal zu mir um und sagt: »Von jetzt an behalten wir Sie im Auge, junge Dame.«
    Er schließt die Metalltür hinter sich. Sie macht ein sattes, zuschnappendes Geräusch, das etwas Endgültiges hat. Während ich der Stille lausche, die darauf folgt, wird mir plötzlich klar, warum Ky sich immer anzupassen versucht. Es ist ein ziemlich beunruhigendes Gefühl, zu wissen, dass die Funktionäre mich von nun an genauer beobachten. Es ist, als hätte ich im Wege gestanden, als die Tür zugeschlagen wurde. Das Gewicht ihrer Beobachtung drückt mich herunter wie ein tonnenschwerer Betonklotz.

    Am Abend von Ems Paarungsbankett gehe ich zeitig zu Bett und schlafe schnell ein. In der Nacht muss ich die Elektroden tragen und hoffe, dass die Informationen, die aus meinen Träumen gewonnen werden, das Schlafmuster eines völlig normalen, siebzehnjährigen Mädchen aufweisen.
    Doch in meinem Traum sortiere ich wieder für die Funktionäre. Auf dem Bildschirm erscheint Ems Bild, und ich soll sie in einen Paarungspool einordnen. Ich erstarre. Meine Hände halten inne. Mein Gehirn hört auf zu funktionieren.
    »Haben Sie Schwierigkeiten?«, fragt der grauhaarige Funktionär.
    »Ich weiß nicht, wohin ich sie sortieren soll«, antworte ich.
    Er blickt auf Ems Bild auf dem Monitor und lächelt. »Ah. Das sollte aber kein Problem sein. Sie hat Ihre Puderdose, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Darin nimmt sie ihre Tabletten zum Bankett mit – genau, wie Sie es getan haben. Sagen Sie ihr einfach, sie soll die rote einnehmen, und alles wird sich finden.«
    Plötzlich bin ich bei dem Bankett und dränge mich durch Trauben von Mädchen in Abendkleidern, Jungen in Anzügen und Eltern in Zivil. Ich fasse die Leute an den Schultern, drehe sie herum, unternehme alles Mögliche, um ihnen ins Gesicht zu sehen. Hier tragen alle gelbe Kleidung, und die Szenerie verschwimmt vor meinen Augen. Ich kann nicht sortieren. Ich kann nicht sehen.
    Ich drehe das nächste Mädchen um.
    Das ist nicht Em.
    Versehentlich schlage ich einem Kellner ein volles Kuchentablett aus der Hand, während ich versuche, ein Mädchen mit graziösem Gang einzuholen. Das Tablett fällt zu Boden, und der Kuchen bricht auseinander wie Erde, die von Pflanzenwurzeln abbröckelt.
    Das ist nicht Em.
    Die Menge lichtet sich, und ein Mädchen im gelben Kleid steht allein vor einem schwarzen Bildschirm.
    Em.
    Sie ist den Tränen nah.
    »Alles wird gut!«, rufe ich und dränge mich durch weitere Scharen von Gästen. »Nimm die Tablette, und alles wird gut!«
    Ems Augen leuchten auf, und sie holt meine Puderdose heraus. Sie greift nach der grünen Tablette und steckt sie blitzschnell in den Mund.
    »Nein!«, rufe ich, aber zu spät. »Die – «
    Als Nächstes nimmt sie die blaue Tablette.
    »Die rote!«, rufe ich noch lauter, als ich mich durch eine letzte Menschentraube dränge und direkt vor ihr stehe.
    »Ich habe keine«, erwidert sie, dreht sich um und steht jetzt mit dem Rücken zum Bildschirm. Ihr Blick ist traurig. »Ich habe keine rote Tablette.«
    »Du kannst meine haben«, sage ich, froh, ihr diesmal helfen zu können. Nein, diesmal sehe ich nicht tatenlos zu, sondern ziehe mein Tablettenröhrchen aus der Tasche, drehe den Verschluss auf und gebe ihr die rote Tablette in die Hand.
    »Danke, Cassia!«, sagt sie, steckt die rote Tablette in den Mund und schluckt.
    Alle Menschen im Saal bleiben plötzlich stehen. Sie starren uns an, alle Augen sind auf Em gerichtet. Was wird die rote Tablette bewirken? Keiner weiß es, außer mir. Ich lächle. Ich weiß, sie wird sie retten.
    Hinter Em leuchtet der Bildschirm auf, und ihr Partner erscheint – gerade rechtzeitig, um Em tot umfallen zu sehen. Mit einen dumpfen Schlag trifft ihr Körper auf dem Boden auf, in einem krassen Gegensatz zu der Zartheit ihrer noch flatternden Lider, des Kleides, das in weichen Falten um sie herniederschwebt, und ihren schmalen Händen, die sich zuckend öffnen wie kleine Flügel.
    Als ich erwache, schwitze und friere ich zugleich, und es dauert eine Weile, bis ich mich beruhigt habe. Obwohl die Funktionäre über die Andeutung gelacht haben, dass die rote Tablette den Tod bringt, wollen die Gerüchte nicht schweigen. Deswegen habe ich geträumt, dass sie Em getötet hat.
    Aber nur, weil ich es geträumt habe, muss es noch lange nicht stimmen.
    Die Schlafelektroden auf meiner Haut fühlen sich klebrig an, und ich wünschte, ich müsste sie nicht ausgerechnet heute Nacht tragen.

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