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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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leuchtendgelbe Wände, grüngeflieste Böden und blaue Klassenzimmertüren. In einer solchen Umgebung fühlt man sich automatisch geborgen. Als ich klein war, habe ich mich immer geborgen gefühlt.
Ich fühle mich hier und jetzt geborgen
, sage ich mir.
Es gibt kein Gedicht mehr, Papas Probleme sind vorbei. Hier bin ich sicher, und auch sonst überall.
    Außer vielleicht auf dem kleinen Hügel, wo ich trotz meiner Entscheidung, auf Nummer sicher zu gehen, Ky oft neugierig angesehen habe. Ich wünschte, wir könnten uns noch einmal in Ruhe unterhalten, aber ich wage es nicht, über etwas anderes mit ihm zu reden als über die üblichen Themen. Es wäre zu riskant.
    Ich blicke mich nach Ky um, entdecke ihn aber nicht.
    »Was sind das für Blumen?«, fragt Xander, während wir Löcher graben. Die Erde ist feucht und schwarz. Sie fällt in Klumpen auseinander, wenn wir sie ausheben.
    »Neorosen«, erkläre ich Xander. »Bestimmt wachsen sie auch in eurem Garten. Wir haben ein paar.«
    Ich erzähle ihm nicht, dass sie nicht gerade die Lieblingsblumen meiner Mutter sind. Sie findet, dass diese neue Sorte, die überall in unserer Stadt in den Gärten und Parks wächst, zu überzüchtet ist, zu weit entfernt von ihren Ursprüngen. Die ursprüngliche Rose brauchte viel Pflege – jede Blüte war ein Triumph. Die neue Variante dagegen ist robust, prächtig und auf lange Haltbarkeit gezüchtet. Meine Mutter hat erzählt, dass es in den Landwirtschaftsgebieten keine Neorosen gibt. »Dafür gedeihen dort andere Blumen, Wildblumen«, sagt sie.
    Als ich klein war, erzählte sie mir oft Geschichten über diese anderen Blumen, die wild in den Landwirtschaftsgebieten wuchsen. Die Geschichten hatten keine Handlung – es waren noch nicht einmal richtige Geschichten, sondern eher Beschreibungen. Aber sie waren schön und trugen mich in den Schlaf. »Es gibt eine Blume, die heißt ›Queen Anne’s Lace‹, die Spitzen der Königin Anne«, erzählte meine Mutter zum Beispiel, gedankenverloren und mit sanfter Stimme. »Das ist die Wilde Möhre. Man kann die Wurzeln der jungen Pflanzen essen. Die großen Blütendolden gleichen zarter weißer Spitze, einer alten Stoffverzierung. Wunderhübsch. Die einzelnen Blüten sehen aus wie lauter kleine Sterne.«
    »Wer ist Königin Anne?«, fragte ich dann schläfrig.
    »Ich weiß es nicht mehr genau. Eine historische Person, die irgendwo in den Hundert Geschichtslektionen vorkommt. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass du dir jetzt ganz genau die Blume vorstellst, ganz viele kleine weiße Blüten, zu viele, um sie zu zählen, aber du versuchst es trotzdem …«
    Xander reicht mir eine weitere Neorose, und ich ziehe sie aus ihrem Plastiktopf und steckte den Pflanzballen in den Boden.
     Die starken, biegsamen Wurzeln sind unten im Topf kreisrund gewachsen, weil sie keinen Platz hatten, und ich breite sie ein
     wenig aus, als ich die Rose in ihr Pflanzloch setze. Die Erde erinnert mich an den Lehm, der beim Wandern an meinen Schuhen
     klebt. Und der Gedanke an das Wandern erinnert mich wiederum an Ky. Schon wieder.
    Ich frage mich, wo er ist. Während Xander und ich die Blumen einpflanzen und uns dabei unterhalten, stelle ich mir vor, wie Ky arbeitet, wenn wir anderen spielen oder in nahezu leeren Sälen zugespielte Musik hören. Ich stelle mir vor, wie er durch die Menschenmenge im Freizeitgebäude streift und an irgendeinem Spiel teilnimmt, das er wahrscheinlich verlieren wird. Ich sehe ihn im Kino sitzen und sich die Vorführung ansehen, mit Tränen in den Augen.
Nein.
Ich verbanne die Bilder aus meinem Gedächtnis. Ich muss damit aufhören. Die Entscheidung ist gefallen.
    Aber eine freie Wahl hatte ich nie.
    Xander weiß, dass ich ihm nicht so aufmerksam zuhöre, wie ich sollte. Er blickt sich um, um sicherzugehen, dass uns niemand belauschen kann, und fragt dann leise: »Machst du dir immer noch Sorgen um deinen Vater, Cassia?«
    Mein Vater. »Ich weiß nicht recht«, antworte ich. Das ist die Wahrheit. Im Moment weiß ich nicht, was ich über ihn denken soll. Mein Ärger lässt schon nach – fast gegen meinen Willen –, und ich bin ihm gegenüber verständnisvoller, mitfühlender. Wenn Großvater mich mit seinem flammenden Blick angesehen und mich gebeten hätte, ihm einen letzten Gefallen zu tun, hätte
ich
da nein sagen können?
    Langsam bricht der Abend an, und der Himmel verdunkelt sich. Es dämmert schon, als der Gong ertönt und wir aufstehen, um unser Werk zu begutachten.

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