Die Auswahl. Cassia und Ky
über die Tablette verraten.
Ich bin froh, dass alles wieder in Ordnung ist und dass ich Em versprochen habe, ihr meine Puderdose für ihr Bankett zu leihen. Denn wozu besitzt man etwas Schönes, wenn man es niemals teilt?
Das wäre genauso, wie ein Gedicht zu besitzen, ein wunderschönes, wildes Gedicht, das kein anderer besitzt, und es zu verbrennen.
Nach einer Weile öffne ich die Augen und werfe Ky einen Blick zu. Er erwidert ihn nicht, aber er weiß, dass ich ihn beobachte. Leise Musik erklingt in einem langsamen Rhythmus. Kys Brust hebt und senkt sich. Seine Wimpern sind schwarz, genau wie seine Haare, und unglaublich lang.
Ky hat recht. Die Musik wird für mich nie wieder so klingen wie zuvor.
KAPITEL 14
A m nächsten Tag bei der Arbeit merken wir alle sofort auf, als einige Funktionäre den Raum betreten. Wie Dominosteine dreht sich ein Kopf nach dem anderen zur Tür des Sortierzentrums. Die Funktionäre in ihren weißen Uniformen sind meinetwegen hier. Jeder weiß es, ich weiß es, deswegen warte ich erst gar nicht auf sie. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. Unsere Blicke treffen sich über die Trennwände der Arbeitsplätze hinweg.
Es ist Zeit für meinen Test, und mit einem Nicken bedeuten sie mir, mitzukommen.
Also folge ich ihnen, mit klopfendem Herzen, aber hocherhobenen Hauptes, in einen kleinen grauen Raum mit einem einzigen Stuhl
und mehreren kleinen Tischen.
Als ich mich setze, erscheint Norah in der Tür. Sie wirkt ein wenig besorgt, wirft mir aber ein beruhigendes Lächeln zu, bevor sie sich an die Funktionäre wendet, einen Mann und zwei Frauen. »Brauchen Sie noch irgendetwas?«
»Nein, danke«, antwortet der Funktionär mit den grauen Haaren, der deutlich älter aussieht als seine beiden Kolleginnen. »Wir haben alles dabei, was wir benötigen.«
Keiner der drei Funktionäre verliert ein Wort, während sie alles vorbereiten. Der Mann, der zuerst gesprochen hat, scheint der Verantwortliche zu sein. Die beiden Frauen arbeiten effektiv und schnell. Sie befestigen eine Elektrode hinter meinem Ohr und eine am Ausschnitt meines Hemdes. Ich sage nichts, nicht einmal, als das Gel, das sie benutzen, auf meiner Haut brennt.
Die Frauen treten zurück, und der ältere Funktionär schiebt einen kleinen Bildschirm über den Tisch zu mir herüber. »Sind Sie bereit?«
»Ja«, antworte ich und hoffe, dass meine Stimme ruhig und fest klingt. Ich straffe die Schultern und setze mich noch ein wenig aufrechter hin. Wenn ich mich so gebe, als hätte ich keine Angst, glauben Sie mir vielleicht. Obwohl die Elektroden an meiner Haut wahrscheinlich etwas ganz anderes sagen – denn mein Herz rast vor lauter Aufregung.
»Dann fangen Sie bitte jetzt an.«
Beim ersten Sortierdurchgang geht es um Zahlen, eine Aufwärmübung. Sie sind fair. Sie geben mir die Chance, mich zu sammeln, bevor sie mit den schweren Aufgaben beginnen.
Während ich die Zahlen auf dem Bildschirm sortiere und Ordnung in das Chaos bringe, beruhigt sich mein Herzschlag. Es gelingt mir, die vielen anderen Gedanken loszulassen, die mich in letzter Zeit beschäftigt haben – die Erinnerung an Xanders Kuss, die Tat meines Vaters, meine Neugier in Bezug auf Ky, meine Sorgen um Em in der Musikhalle und dass ich selbst so durcheinander bin, wer ich sein soll und wen ich lieben soll. Ich lasse das alles los wie ein Kind einen Strauß Luftballons an seinem ersten Schultag. Sie steigen in den Himmel, leuchtend und tanzend im Wind, aber ich blicke nicht auf und versuche nicht, sie festzuhalten. Nur wenn ich an nichts mehr festhalte, kann ich die Beste sein, nur dann kann ich so sein, wie sie es von mir erwarten.
»Ausgezeichnet«, sagt der ältere Funktionär, als er die Ergebnisse eingibt. »Wirklich ausgezeichnet. Vielen Dank, Cassia.«
Die Funktionärinnen entfernen die Elektroden. Unsere Blicke treffen sich, und sie lächeln, denn jetzt kann man sie ja nicht mehr der Parteilichkeit beschuldigen. Der Test ist vorbei, und es sieht so aus, als hätte ich ihn bestanden.
»Es war mir ein Vergnügen«, sagt der grauhaarige Funktionär und reicht mir über den kleinen Tisch hinweg die Hand. Ich stehe auf und ergreife sie und schüttelte auch den beiden anderen die Hände. Ob sie die Energie spüren, die mich durchströmt? Durch meine Adern scheinen nur noch reines Adrenalin und Erleichterung zu strömen.
»Das war eine außergewöhnliche Demonstration von sortiererischem Können.«
»Vielen Dank, Sir.«
Auf dem Weg zur Tür
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