Die Auswahl. Cassia und Ky
Wenigstens war der Albtraum kein wiederkehrender, so dass man mir nicht vorwerfen kann, ich sei von etwas besessen. Ohnehin glaube ich nicht, dass sie genau sehen können, was ich geträumt habe. Sie können nur ablesen,
dass
ich geträumt habe. Und ein junges Mädchen, das mal einen Albtraum hat, kann nicht so ungewöhnlich sein. Niemand wird über diese Information stolpern, wenn sie in meiner Datei gespeichert wird.
Aber der grauhaarige Funktionär hat angekündigt, dass sie mich im Auge behalten würden.
Mit einem stechenden Schmerz in der Brust, der mir fast den Atem nimmt, starre ich in die Dunkelheit. Meine Gedanken rasen.
Seit dem Tag von Großvaters Abschiedsbankett letzten Monat schwanke ich zwischen dem Wunsch, er hätte mir das Blatt nie gegeben, und Dankbarkeit dafür, dass er es getan hat. Denn jetzt habe ich wenigstens Worte für das, was in mir vor sich geht:
Ich rase, wenn die Dämmerung lauert.
Wenn ich es nicht benennen könnte, wüsste ich dann überhaupt, was es ist? Würde ich es überhaupt empfinden?
Ich nehme den Mikrochip, den die Funktionärin mir im Park gegeben hat, und schleiche damit auf Zehenspitzen zum Terminal. Ich muss Xanders Gesicht sehen, ich brauche die Gewissheit, dass alles in Ordnung ist.
Erstaunt halte ich inne. Meine Mutter steht vor dem Terminal und unterhält sich mit jemandem. Wer meldet sich so spät am Abend noch bei ihr?
Mein Vater sieht mich vom Wohnzimmer aus, wo er auf dem Sofa sitzend auf meine Mutter wartet. Er winkt mich zu sich, und ich setze mich neben ihn. Er wirft einen Blick auf den Mikrochip in meiner Hand, lächelt und neckt mich, wie es jeder Vater tun würde: »Reicht es dir nicht, Xander in der Schule zu sehen? Möchtest du ihn dir noch einmal anschauen, bevor du schlafen gehst?«
Er legt den Arm um mich und drückt mich. »Ich kann dich gut verstehen. Mit deiner Mutter ging es mir genauso. Damals war es allerdings noch erlaubt, sich gleich einen Ausdruck zu machen, anstatt bis nach dem ersten Treffen warten zu müssen.«
»Was haben deine Eltern dazu gesagt, dass Mama aus den Landwirtschaftsgebieten stammte?«
Mein Vater denkt einen Augenblick nach. »Na ja, um ehrlich zu sein, waren sie schon ein wenig besorgt. Sie hatten natürlich erwartet, dass meine perfekte Partnerin auch aus einer Stadt kommen würde. Aber bereits nach kurzer Zeit waren sie sehr glücklich über unsere Paarung.« Und da ist es wieder: Sein typisches Lächeln, wenn er über das Verliebtsein spricht. »Schon nach dem ersten Treffen waren ihre Sorgen wie weggeblasen. Du hättest deine Mutter damals sehen sollen!«
»Warum habt ihr euch in der Stadt und nicht bei ihr auf dem Land getroffen?«, will ich wissen. Das erste Treffen findet normalerweise bei dem Mädchen zu Hause statt, und es ist immer ein Funktionär anwesend, um sicherzustellen, dass alles glattläuft.
»Sie hat darauf bestanden, hierher zu kommen, obwohl es eine lange Reise war. Sie wollte so schnell wie möglich die Stadt sehen. Meine Eltern, der Funktionär und ich haben sie gemeinsam vom Bahnhof abgeholt.«
Er schweigt einen Moment, und ich weiß, dass er an dieses erste Treffen zurückdenkt und daran, wie meine Mutter aus dem Airtrain gestiegen ist.
»Und?«, frage ich – etwas ungeduldig, aber ich muss ihn daran erinnern, dass wir im Hier und Jetzt sind und ich alles über die Paarung wissen möchte, aus der ich hervorgegangen bin.
»Als sie aus dem Zug stieg, sagte deine Großmutter zu mir: ›Sie hat noch die Sonne im Gesicht.‹« Wieder unterbricht sich mein Vater und lächelt. »Ja, genauso war es. Noch nie zuvor hatte ich jemanden gesehen, der so sonnig und so lebendig wirkte. Meine Eltern haben nie irgendwelche Bedenken über sie geäußert. Ich glaube, an diesem Tag haben wir uns alle in sie verliebt.«
Wir haben beide nicht gemerkt, dass meine Mutter im Türrahmen steht, bis sie sich jetzt räuspert. »Und ich mich in euch!« Sie wirkt ein bisschen bedrückt, und ich frage mich, ob sie an Großvater oder Großmutter oder an beide denkt. Sie und mein Vater sind jetzt die Einzigen, die sich noch an diese Begegnung erinnern können, außer vielleicht dem Funktionär, der die Aufsicht führte.
»Wer hat so spät noch angerufen?«, frage ich.
»Jemand von der Arbeit«, antwortet meine Mutter. Müde lässt sie sich neben meinen Vater sinken und lehnt ihren Kopf an seine Schulter, als er sie in den Arm nimmt. »Ich muss morgen auf Dienstreise.«
»Warum denn?«
Meine Mutter gähnt, und
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