Die Auswahl. Cassia und Ky
Gedanken, dass vielleicht doch etwas von ihm weiterlebt. »Sie können sie mitnehmen«, sagt Bram, »aber sie wird immer mir gehören.«
Bram geht auf sein Zimmer. Seine schweren Schritte und die Art, wie er die Tür schließt, sagen mir, dass er allein sein will.
Ich habe Lust, auf irgendetwas einzuschlagen, doch stattdessen bohre ich meine Hände tief in die Taschen. Dort finde ich den braunen Papierumschlag: eine zerknüllte Hülle, die einst etwas Wertvolles und Schönes enthalten hat. Es ist nur ein Umschlag, kein Artefakt – die Messinstrumente der Funktionäre haben ihn nicht einmal registriert. Ich ziehe ihn heraus und reiße ihn wütend entzwei. Ich will ihn zerrupfen, in kleine Stücke zerfetzen. Die ungleichmäßige Risskante gefällt mir, und ich fühle mich gut dabei, etwas zu zerstören. Ich will ihn weiter zerreißen und suche nach einer neuen Ansatzstelle.
Mir bleibt die Luft weg, als ich entdecke, was ich beinahe ruiniert hätte.
Ein weiterer Teil von Kys Geschichte.
Noch etwas, was die Funktionäre nicht gefunden haben.
Trinken – Ertrinken lautet die Überschrift. Die Buchstaben sehen stark und schön aus, genau wie er. Ich denke an seine Hand, die sie geschrieben, seine Haut, die das Papier berührt hat. Ich beiße mir auf die Lippe und sehe mir die Zeichnung darunter an.
Wieder sehe ich zwei Kys, den jüngeren und den jetzigen, beide wieder mit leeren Händen. Der jüngere steht vor einer kargen, öden Landschaft, und hinter ihm ragen nackte Felsen in den Himmel. Auf dem zweiten Bild ist er hier bei uns in der Siedlung – ich erkenne einen Ahornbaum hinter ihm. Auf beiden Bildern regnet es, doch auf dem ersten ist sein Mund geöffnet, und er trinkt das vom Himmel fallende Wasser. Auf dem zweiten hält er den Kopf gesenkt. Seine Augen sind in panischer Angst aufgerissen, und der Regen prasselt in Strömen auf ihn nieder, wie ein Wasserfall. Zu viel Regen. Er könnte ertrinken.
Wenn es regnet, erinnere ich mich steht unter dem Bild.
Ich blicke auf, aus dem Fenster hinaus, wo die glühende Abendsonne an einem klaren Himmel untergeht. Ich sehe keine Spur von Wolken, nehme mir aber vor, mich ebenfalls bei Regen zu erinnern. An dieses Stück Papier, an diese Bilder und Worte. An dieses Stück von ihm.
KAPITEL 19
A m nächsten Morgen sagt im Airtrain Richtung Stadt kaum jemand ein Wort. Niemand möchte darüber reden, was am Abend zuvor in der Siedlung geschehen ist. Diejenigen, die ihre Artefakte hergeben mussten, schweigen bedrückt wegen des Verlusts, und die, die niemals welche besaßen, schweigen aus Respekt. Vielleicht aber auch aus Zufriedenheit, weil jetzt alle Ungleichheiten beseitigt wurden.
Bevor er an seiner Haltestelle aussteigt, um zum Schwimmen zu gehen, lehnt sich Xander zu mir hinüber, küsst mich auf die Wange und sagt leise: »Unter den Neorosen vor Kys Haus.«
Er steigt aus dem Airtrain aus und verschwindet mit den anderen Schülern, während ich weiter zum Arboretum fahre. Fragen über Fragen beschäftigen mich:
Wie hat Xander es geschafft, das Artefakt unbemerkt im Blumenbeet der Markhams zu vergraben? Weiß er, dass es Ky gehört, oder hat er den Garten der Markhams zufällig als Versteck ausgewählt?
Weiß er, was ich für Ky empfinde?
Was auch immer Xander weiß oder vermutet, eines ist sicher: Er hätte kein besseres Versteck aussuchen können. Wir sind alle angehalten, unsere Gärten ordentlich zu pflegen. Wenn Ky in seinem eigenen Garten buddelt, wird niemand Verdacht schöpfen. Ich muss ihm nur sagen, wo er suchen soll.
Genau wie alle anderen starrt auch Ky aus dem Fenster, während wir zum Arboretum gleiten. Hat er gesehen, wie Xander mich geküsst hat? Macht es ihm etwas aus? Er sieht mir nicht in die Augen.
»Bei dieser neuen Übung bilden wir Paare«, verkündet der Offizier, als wir den Fuß des Hügels erreichen. »Sie werden in Zweierteams eingeteilt, je nach Ihren bisherigen Leistungen beim Wandern und wie sie sich aufgrund der von mir erfassten Daten darstellen. Das heißt: Cassia und Ky, Livy und Tay …«
Livy verzieht enttäuscht das Gesicht, während ich versuche, keine Regung zu zeigen.
Der Offizier liest seine Liste herunter. Dann sagt er: »Auf dem Berg erwartet Sie eine andere Aufgabe als bisher. Bis zum Gipfel werden Sie nie kommen. Die Gesellschaft hat uns gebeten, unsere Wanderzeit dazu zu nutzen, Hindernisse auf dem Hügel zu markieren.« Er zeigt auf die Tüten, die sich neben ihm stapeln. Sie enthalten rote Stoffstreifen.
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