Die Auswahl. Cassia und Ky
der es zufällig sehen würde, könnte das Wort vielleicht nicht einmal als solches erkennen. Aber ich weiß, was da steht. »Und was kommt als Nächstes?«
»Als Nächstes«, antwortet Ky, »gehen wir zurück zum Anfang. Du kannst schon das
a
. Morgen üben wir das
b
. Sobald du das ganze Alphabet kannst, kannst du deine eigenen Gedichte schreiben.«
»Wer würde die wohl lesen?«, frage ich lachend.
»Ich«, antwortet er und reicht mir eine weitere zusammengefaltete Serviette. Dort, zwischen fettigen Fingerabdrücken und Essensspuren, werde ich mehr von Ky erfahren.
Ich stecke die Serviette in die Tasche und stelle mir vor, wie Ky seine Geschichte mit seinen Händen geschrieben hat, die vom heißen Wasser bei seiner schweren Arbeit gerötet sind. Ich mache mir bewusst, dass er jedes Mal alles aufs Spiel setzt, wenn er sich eine Serviette in die Tasche steckt. So viele Jahre lang war er übervorsichtig, aber jetzt ist er bereit, ein Risiko einzugehen. Weil er jemanden gefunden hat, der alles von ihm wissen möchte. Jemanden, dem er alles sagen möchte.
»Danke, dass du mir das Schreiben beigebracht hast«, sage ich.
»Ich danke
dir
«, erwidert er. Seine Augen leuchten, und ich habe dieses Licht in ihnen entfacht. »Dafür, dass du mein Artefakt gerettet hast, und für das Gedicht.«
Es gäbe noch mehr zu sagen, aber wir müssen noch lernen, miteinander zu reden. Zusammen treten wir zwischen den Bäumen hervor. Wir berühren uns nicht. Noch nicht.
KAPITEL 20
N ach der Schule und dem Sortieren gehe ich mit Em von der Airtrain-Haltestelle nach Hause. Nachdem die anderen, die mit uns zusammen angekommen sind, entweder vorgegangen oder zurückgefallen sind, legt Em mir die Hand auf den Arm. »Es tut mir so leid!«, sagt sie leise.
»Bitte, Em. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich bin dir nicht böse.« Dabei sehe ich ihr in die Augen, damit sie weiß, dass ich es ernst meine. Trotzdem blickt sie immer noch traurig. Früher hatte ich oft das Gefühl, eine Version von mir selbst zu sehen, wenn ich Em betrachtete, aber heute geht es mir nicht so. Zu viel hat sich in letzter Zeit verändert. Trotzdem ist Em noch immer meine beste Freundin. Obwohl wir uns in verschiedene Richtungen entwickeln, ändert das nichts an der Tatsache, dass wir miteinander aufgewachsen sind. Unsere Wurzeln werden immer ineinander verschlungen sein, und dafür bin ich dankbar. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, fahre ich fort. »Ich bin froh, dass ich dir die Puderdose geliehen habe. So hatten wir wenigstens beide Freude daran, bevor sie mir weggenommen wurde.«
»Ich verstehe das immer noch nicht«, sagt Em leise. »Im Museum liegen so viele Ausstellungsstücke. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«
Noch nie habe ich aus Ems Mund etwas gehört, das dermaßen an Ungehorsam gegrenzt hat, und ich grinse sie an. Vielleicht haben wir uns doch nicht so sehr auseinanderentwickelt.
»Was machen wir heute Abend?«, frage ich und wechsle damit das Thema.
Em wirkt erleichtert darüber. »Ich habe vorhin mit Xander gesprochen, und er meinte, er würde heute Abend gerne ins Spielcenter gehen. Wie findest du das?«
Ich träume viel eher davon, noch einmal auf die Kuppe des ersten kleinen Hügels zurückzukehren. Die Vorstellung, mich im stickigen, überfüllten Center aufhalten zu müssen, statt unter klarem Nachthimmel auf dem Hügel zu sitzen und mich zu unterhalten, scheint mir unerträglich. Aber ich werde damit fertig werden. Ich werde alles Nötige tun, um den Schein der Normalität zu wahren. Ich habe Kys Geschichte. Und wenn ich Glück habe, treffe ich Ky sogar später. Ich hoffe, dass er uns begleitet.
Em reißt mich aus meinen Gedanken. »Sieh mal. Deine Mutter wartet auf dich.«
Em hat recht. Meine Mutter sitzt auf der Eingangstreppe unseres Hauses, das Gesicht zu uns gewandt. Als sie sieht, dass ich in ihre Richtung blicke, steht sie auf, winkt und kommt auf uns zu. Ich winke zurück, und Em und ich gehen ein bisschen schneller.
»Sie ist wieder da!«, sage ich laut, und erst, als ich die Überraschung in meiner Stimme höre, gestehe ich mir meine Angst davor ein, dass sie nie mehr zurückkommen würde.
»War sie denn weg?«, fragt Em, und da fällt mir ein, dass die Dienstreise meiner Mutter möglicherweise zu den Dingen gehört, die wir außerhalb unserer Familie nicht erwähnen dürfen. Die Funktionäre haben zwar nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, aber wir haben gelernt, so etwas in der Regel für uns zu
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