Die Auswahl. Cassia und Ky
wir machen. Sie hat gesehen, wie wir geschrieben haben. Wir waren nicht vorsichtig genug.«
Ich komme mir dumm vor. Erleichtert seufze ich auf.
»Ich habe ihr weisgemacht, ich hätte dir gezeigt, wie man Bäume zeichnet.« Er hebt einen Stock neben mir auf und zeichnet damit ein Muster, das fast genauso aussieht, wie ein Blätterdach. Dann legt er den Stock als Stamm des Baumes darunter. Auch, nachdem er fertig ist, lasse ich seine Hände nicht aus den Augen, weil ich nicht weiß, wohin ich sonst blicken soll.
»Niemand zeichnet mehr, nachdem man mit der Grundschule fertig ist.«
»Ich weiß«, antwortet er. »Aber wenigstens ist es nicht ausdrücklich verboten.«
Ich hole einen roten Stoffstreifen aus der Tasche und binde ihn an einen umgestürzten Baum in Kys Nähe. Ich halte den Blick auf meine Hände gesenkt, während ich den Stoff verknote. »Es tut mir leid, wie ich mich benommen habe.« Als ich mich aufrichte, ist Ky bereits weitergangen.
»Schon gut«, erwidert Ky und zieht ein Gewirr von grünen Kletterranken von einem Gebüsch weg, so dass wir hindurchklettern können. Er wirft mir die Ranken zu, und ich fange sie in einem überraschten Reflex auf. »Es tut gut, dich auch mal eifersüchtig zu sehen.« Er lächelt, und im Wald geht die Sonne auf.
Ich verkneife mir ein Lächeln. »Wer sagt denn, dass ich eifersüchtig war?«
»Niemand«, antwortet er. »Ich kann es dir ansehen. Ich habe viel Zeit damit verbracht, andere Menschen genau zu beobachten.«
»Warum sollte ich es eigentlich noch eine Weile behalten?«, frage ich. »Das Gehäuse mit dem rotierenden Pfeil? Es ist sehr schön. Ich weiß nur nicht so recht …«
»Niemand außer meinen Eltern weiß, dass ich es besitze«, unterbricht er mich. »Als Em mir die Puderdose anvertraut hat, um sie dir zurückzugeben, ist mir aufgefallen, wie sehr sich die beiden Artefakte ähneln. Und ich wollte gern, dass du es dir ansiehst.«
In seiner Stimme schwingt plötzlich Einsamkeit mit, und fast kann ich einen weiteren Satz hören, den, den er instinktiv nicht ausspricht:
Ich wollte, dass du mich ansiehst.
Denn geht es nicht sowohl bei dem Goldgehäuse mit dem Pfeil als auch bei den verstreuten Puzzleteilen seiner Geschichte im Grunde darum, dass Ky sich wünscht, ihn sähe jemand so, wie er wirklich ist?
Er möchte, dass
ich
ihn so sehe, wie er ist
.
Meine Hände sehnen sich danach, ihn zu berühren. Aber ich bringe es nicht fertig, Xander derart zu betrügen, nach allem, was er getan hat. Er hat uns beide – Ky und mich – gestern Abend gerettet.
Doch es gibt etwas, das ich mit Ky teilen kann, etwas, das ganz allein mir gehört und nicht Xander. Das Gedicht.
Ich wollte ihm eigentlich nur einige weitere Zeilen erzählen, aber als ich einmal angefangen habe, sage ich alle Strophen auf. Die Worte gehören zusammen. Manches ist einfach dazu erschaffen zusammen zu sein.
»Das ist kein friedliches Gedicht«, meint Ky.
»Ich weiß.«
»Aber warum beruhigt es mich dann?«, fragt er verwundert. »Das verstehe ich nicht.«
Schweigend bahnen wir uns weiter einen Weg durch das Unterholz, in Gedanken ganz mit dem Gedicht beschäftigt.
Endlich weiß ich, wie ich es sagen soll: »Ich glaube, es liegt daran: Wenn wir es hören, wissen wir, dass wir nicht die Einzigen sind, die je so empfunden haben.«
»Sag es noch einmal für mich auf«, bittet mich Ky mit rauer Stimme, und sein Atem stockt.
Bis wir die Pfeife des Offiziers hören, wiederholen wir gegenseitig das Gedicht für uns, wie ein Lied, ein Lied, das nur uns beiden gehört.
Bevor wir den Wald verlassen, bringt mir Ky bei, die letzten Buchstaben meines Namens in die weiche Erde unter einem der umgestürzten Bäume zu schreiben. Wir hocken uns hin, rote Stoffstreifen in den Händen, damit wir so tun können, als befestigten wir sie, falls jemand vorbeikommt. Es dauert eine Weile, bis ich das
s
richtig kann, aber ich mag seine schräggeneigte Form – als lehne es sich gegen den Wind. Das
i
, den geraden Strich mit dem Punkt, lerne ich schnell, und das
a
kann ich ja schon.
Ich schreibe alle Buchstaben meines Namens und verbinde sie miteinander. Ky führt den Stock, seine Hand dicht neben meine gelegt. Wir berühren uns nicht, aber ich spüre die Wärme seiner Haut und die Nähe seines sehnigen Körpers, während er beim Schreiben eng hinter mir kauert.
Cassia.
»Mein Name«, sage ich und betrachte die Buchstaben. Sie wirken ein bisschen unsicher, nicht so souverän wie Kys Schrift. Jemand,
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