Die Auswahl. Cassia und Ky
dürfen.«
»Jemand, dessen Geschichte man sich lange Zeit erzählt hat.« Ky steht auf und macht sich wieder auf den Weg. Offenbar hat er heute das Bedürfnis, in Bewegung zu bleiben. »Es war eine der Lieblingsgeschichten meines Vaters. Ich glaube, dass er wie Sisyphus sein wollte, der intelligent und wagemutig war und sich ständig mit der Gesellschaft und den Funktionären angelegt hat.«
Ky hat noch nie über seinen Vater gesprochen. Seine Stimme klingt emotionslos, und ich kann nicht heraushören, welche Gefühle die Erinnerung an diesen Mann in ihm auslöst, der vor so vielen Jahren gestorben ist, der Mann, dessen Namen Ky auf dem Bild in der Hand gehalten hat.
»Eines Tages hat Sisyphus einen Funktionär gebeten, ihm zu zeigen, wie seine Waffe funktioniert, und anschließend hat er diese Waffe auf den Funktionär gerichtet.«
Schockiert blicke ich ihn an, aber Ky scheint meine Reaktion vorausgeahnt zu haben. Beruhigend sieht er mich an und erklärt: »Es ist eine alte Geschichte, von damals, als die Funktionäre noch Waffen getragen haben. Heute benutzen sie ja keine mehr.«
Was er nicht sagt, wir aber beide wissen ist:
Sie brauchen keine Waffen mehr zu benutzen.
Es genügt schon die Drohung der Reklassifizierung, um fast jeden in Schach zu halten.
Ky wendet sich um und kämpft sich weiter voran. Ich beobachte jede seiner Bewegungen, seine Rückenmuskeln sind nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich bleibe ihm dicht auf den Fersen, damit ich hindurchschlüpfen kann, wenn er für mich einen Zweig beiseitehält. Der Geruch des Waldes scheint, zumindest für einen kurzen Moment, auch sein Geruch zu sein. Ich frage mich, wie Salbei riecht, sein Lieblingsduft aus seinem früheren Leben. Ich hoffe, dass inzwischen der Geruch dieses Waldes sein Lieblingsduft ist. Meiner ist es jedenfalls.
»Die Gesellschaft entschied, Sisyphus zu bestrafen, und zwar auf eine ganz besondere Art und Weise, weil er zu denken gewagt hatte, er könnte so klug sein wie einer von ihnen, obwohl er weder ein Funktionär noch ein Bürger war. Er war ein Nichts. Eine Aberration aus den Äußeren Provinzen.«
»Was haben sie mit ihm gemacht?«
»Sie haben ihm eine Arbeit gegeben. Er musste einen Stein, einen riesigen Stein, auf einen Berg rollen.«
»Das hört sich doch gar nicht so schrecklich an.« Erleichterung schwingt in meiner Stimme mit. Denn wenn die Geschichte für Sisyphus gut ausgeht, kann sie vielleicht auch für Ky gut ausgehen.
»Aber es war nicht so leicht, wie es klingt. Als er den Gipfel fast erreicht hatte, rollte der Stein den Berg wieder hinunter, und er musste von neuem anfangen. Das geschah jedes Mal. Er hat es nie geschafft, den Stein bis hinauf zum Gipfel zu bringen. Er musste es sein Leben lang versuchen.«
»Ich verstehe«, sage ich und weiß jetzt, warum unsere Wanderungen auf dem kleinen Hügel Ky an Sisyphus erinnert haben. Tag ein, Tag aus taten wir dasselbe: Wir stiegen hinauf und wieder hinunter. »Aber wir haben es immerhin bis zum Gipfel des kleinen Hügels geschafft.«
»Ja, aber wir durften dort nie lange bleiben«, betont Ky.
»Kam er aus
deiner
Provinz?«, frage ich und bleibe einen Augenblick stehen, weil ich glaube, die Trillerpfeife des Offiziers gehört zu haben. Aber es war nur ein schriller Vogelruf aus dem Blätterdach über uns.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob es ihn überhaupt gegeben hat«, sagt Ky. »Ob er je existiert hat.«
»Aber warum sollte man sich dann diese Geschichte erzählen?« Das verstehe ich nicht, und für einen Moment fühle ich mich betrogen. Warum hat Ky mir von dieser Person erzählt und mein Mitgefühl geweckt, wenn es keinen Beweis gibt, dass sie je gelebt hat?
Ky hält einen Moment inne, bevor er antwortet. Seine Augen sind weit und tief wie das Meer in manchen Geschichten oder der Himmel in seiner eigenen. »Selbst wenn er nicht wirklich gelebt hat, haben doch viele von uns genau wie er gelebt. Deswegen ist die Geschichte trotzdem wahr.«
Während wir weiterwandern, denke ich darüber nach, was Ky gesagt hat. Wir kommen schnell voran, markieren einzelne Stellen und helfen einander, das unwegsame Gelände des Waldes zu passieren. Ein Geruch liegt in der Luft, den ich schon einmal wahrgenommen habe: der Geruch von Zerfall, aber nicht nach Verwesung. Es ist der fast üppige Geruch der Pflanzen, die wieder zu Erde werden, und von Holz, das zu Staub zerfällt.
Und doch könnte dieser Hügel irgendetwas verbergen. Ich erinnere mich an Kys Worte und
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