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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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erleichtert.
    »Gratuliere«, sagt der grauhaarige Funktionär, als ich ihn erreiche. »Sie haben bei Ihrem letzten Test hervorragend abgeschnitten.«
    »Danke«, antworte ich, aber dieses Mal meine ich es ehrlich.
    »Der nächste Schritt besteht in einem Praxistest«, erklärt mir der Funktionär. »In Kürze werden wir uns bei Ihnen melden und Sie zu dem Ort Ihres ersten richtigen Einsatzes begleiten.«
    Ich nicke. Auch davon habe ich schon gehört. Die Funktionäre lassen einen irgendetwas Echtes sortieren – reale Daten, Nachrichten zum Beispiel, oder echte Menschen, wie bestimmte Gruppierungen innerhalb einer Schulklasse –, um herauszufinden, ob man seine Fähigkeiten auch in der Realität anwenden kann. Wenn das der Fall ist, geht man zum nächsten Schritt über, der dann in die endgültige Arbeitsstelle münden wird.
    Für meinen Geschmack geht das alles ungewöhnlich schnell. Tatsächlich scheint alles in letzter Zeit überstürzt zu geschehen: die hastige Sammlung der Artefakte in den Privathäusern, die plötzliche Dienstreise meiner Mutter und jetzt mein Praxistest. Hinzu kommt, dass in diesem Jahr außergewöhnlich viele Schüler der Abschlussklassen die Schule frühzeitig verlassen haben.
    Die Funktionäre warten auf meine Antwort.
    »Danke«, sage ich wieder.

    Am Nachmittag erhält meine Mutter bei der Arbeit folgende Aufforderung:
Fahren Sie nach Hause und packen Sie.
Sie wird erneut auf eine Dienstreise geschickt, die sogar noch länger dauern könnte als die letzte. Ganz offensichtlich gefällt meinem Vater das nicht und Bram auch nicht. Und mir ehrlich gesagt auch nicht.
    Ich sitze auf ihrem Bett und sehe ihr beim Packen zu. Sie faltet zwei Zivilanzüge. Faltet ihren Schlafanzug, ihre Unterwäsche, ihre Socken. Sie öffnet ihr Tablettenröhrchen und überprüft den Inhalt.
    Eine Tablette fehlt – die grüne. Sie wirft mir einen raschen Blick zu, und ich schaue weg.
    Mir kommt in den Sinn, dass diese Reisen möglicherweise beschwerlicher sind, als es den Anschein hat, und ich mache mir klar, dass die fehlende Tablette nicht unbedingt ein Zeichen ihrer Schwäche sein muss, sondern vielleicht sogar ein Beweis ihrer Stärke ist. Denn wenn das, womit sie fertig werden muss, so schwer ist, dass sie die grüne Tablette einnimmt, muss es auch sehr schwer für sie sein, es für sich zu behalten und nicht mit uns zu teilen. Aber sie ist stark und behält diese Geheimnisse für sich, um uns zu schützen.
    »Cassia? Molly?« Mein Vater kommt ins Schlafzimmer, und ich stehe auf. Rasch umarme ich vor dem Hinausgehen meine Mutter. Als ich sie loslasse, begegnen sich unsere Blicke, und ich lächele sie an. Ich möchte ihr sagen, dass ich weiß, dass ich eben nicht hätte wegschauen müssen. Ich schäme mich nicht für sie. Ich weiß, wie schwer es ist, ein Geheimnis für sich zu behalten. Vielleicht bin ich zum Sortieren geboren wie mein Vater und mein Großvater, aber ich bin auch die Tochter meiner Mutter.

    Am Montagmorgen gehen Ky und ich wieder in den Wald und finden schließlich die Stelle, an der wir beim letzten Mal aufhören mussten. Von dort aus markieren wir wieder die Hindernisse mit roten Stoffstreifen. Ich wünschte, es wäre auch in anderer Hinsicht so leicht wie früher, einfach dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben. Zuerst zögere ich, denn ich möchte den Frieden dieses Waldes nicht mit dem Schrecken der Äußeren Provinzen stören, aber Ky hat so lange einsam gelitten, dass ich es nicht ertragen kann, ihn auch nur eine Minute länger warten zu lassen.
    »Es tut mir so leid für dich, Ky! Es tut mir so leid, dass sie umgekommen sind!«
    Er antwortet nicht, sondern bückt sich, um einen roten Stoffstreifen an einem besonders stachligen Gebüsch zu befestigen. Seine Hände zittern ein wenig. Ich kann mir vorstellen, was ein kurzer Moment des Kontrollverlusts für jemanden wie Ky bedeutet, und ich möchte ihn trösten. Ich lege die Hand auf seinen Rücken, leicht und sanft, um ihm zu sagen, dass ich für ihn da bin. Als ich mit der Hand den Stoff seines Hemdes berühre, fährt er herum, und ich ziehe mich zurück, als ich den Schmerz in seinen Augen lese. Mit seinem Blick bittet er mich, nichts weiter zu sagen. Es genügt, dass ich es weiß. Vielleicht ist es sogar schon zu viel.
    »Wer ist eigentlich Sisyphus?«, frage ich in dem Versuch, ihn abzulenken. »Du hast einmal kurz von ihm gesprochen. Als der Offizier uns mitgeteilt hat, dass wir endlich auf den großen Hügel steigen

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