Die Auswahl. Cassia und Ky
Wie sie im Himmel fliegen.«
»Meinst du, dass heute noch jemand an sie glaubt?«, fragt er.
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Und du?«
»Ich glaube an dich«, sagt er leise, fast scheu. »Das ist mehr Glaube, als ich mir je erhofft habe.«
Wir wandern schnell zwischen den Bäumen hindurch. Ich spüre mehr als ich sehe, dass wir uns der Kuppe des Hügels nähern. Irgendwann wird unsere Arbeit hier getan und unsere Zeit vorüber sein. Es dauert schon gar nicht mehr lange, den ersten Abschnitt des Hügels zu erklimmen. Hier ist jetzt alles festgetrampelt und markiert, und wir wissen, welche Richtung wir einschlagen müssen, jedenfalls am Anfang. Aber noch gibt es genug wildes Gelände zu erkunden und vieles zu entdecken. Dafür bin ich dankbar. Ich bin so dankbar, dass ich wünschte, an Engel zu glauben, damit ich irgendjemandem gegenüber meine Dankbarkeit äußern könnte.
»Erzähl mir mehr«, bittet Ky.
»Ich hatte ein grünes Kleid an.«
»Grün«, sagt er und blickt sich nach mir um. »Ich habe dich noch nie in Grün gesehen.«
»Du hast mich noch nie in etwas anderem als Braun oder Schwarz gesehen«, erwidere ich. »Braune Zivilkleidung, schwarze Badeanzüge.« Ich erröte.
»Ich nehme zurück, was ich eben gesagt habe«, sagt er später, als die Pfeife ertönt. »Ich habe dich doch schon in Grün gesehen. Ich sehe dich jeden Tag in Grün, hier, zwischen den Bäumen.«
Am nächsten Tag frage ich ihn: »Kannst du mir erzählen, warum du damals im Kino geweint hast?«
»Du hast es bemerkt?«
Ich nicke.
»Ich konnte nicht anders.« Sein Blick, jetzt in die Ferne gerichtet, verhärtet sich. »Ich wusste nicht, dass sie solches Material besitzen. Das hätte mein Dorf sein können. Es war definitiv in einer der Äußeren Provinzen.«
»Moment mal.« Ich denke an die Menschen, die rasenden dunklen Schatten. »Willst du etwa damit sagen, dass …?«
»… dass alles echt war«, beendet er meinen Satz. »Ja. Das waren keine Schauspieler. Das war kein Filmset. So etwas passiert in den Äußeren Provinzen, Cassia. Als ich fortging, geschah es immer öfter.«
O nein!
Bald wird die Pfeife ertönen, das weiß ich. Er weiß es auch. Aber ich strecke die Arme nach ihm aus und umarme ihn, hier im Wald, wo die Bäume uns Deckung bieten und der Gesang der Vögel unsere Stimmen übertönt. Der ganze Hügel wird zum Komplizen unserer Umarmung.
Ich löse mich von ihm, weil ich noch etwas schreiben muss, bevor unsere Zeit endet. Ich habe es schon in der Luft geübt, will es jetzt aber in die Erde ritzen.
»Mach die Augen zu«, bitte ich Ky und beuge mich vornüber. Ich höre seinen Atem über mir, während er wartet. »Jetzt!«, sage ich, und er sieht sich an, was ich geschrieben habe.
Ich liebe dich.
Es ist mir peinlich, als sei ich ein kleines Mädchen, das diese Zeile auf seinem Schreibcomputer getippt hat und sie einem Jungen in seiner Grundschulklasse zu lesen gibt. Meine Schrift ist krakelig und ungelenk, nicht so gleichmäßig wie Kys.
Warum sind manche Dinge leichter zu schreiben als auszusprechen?
Trotzdem fühle ich mich mutig und verletzlich zugleich, als ich dort im Wald stehe, mit Worten, die ich nicht mehr zurücknehmen kann. Meine ersten selbstgeschriebenen Worte, außer unseren Namen. Es ist kein großes Gedicht, aber ich weiß, dass Großvater es verstehen würde.
Ky sieht mich an. Zum ersten Mal seit der Vorführung sehe ich Tränen in seinen Augen.
»Du musst es nicht auch schreiben«, sage ich unsicher. »Ich wollte nur, dass du es weißt.«
»Ich will es gar nicht schreiben«, erwidert er.
Und dann spricht er es aus, mitten auf dem Hügel. Und von allen Worten, die ich versteckt, gerettet und wie einen Schatz gehütet habe, sind es diese, die ich niemals vergessen werde, sie sind die wichtigsten von allen.
»Ich liebe dich.«
Ein Blitz. Einmal eingeschlagen, gezackt und gleißend, vom Himmel zur Erde, gibt es kein Zurück mehr.
Es ist Zeit. Ich fühle es, ich weiß es. Meine Augen sind auf ihn gerichtet, seine auf mich. Wir atmen, sehen uns an und haben das Warten satt. Ky schließt die Augen, aber meine sind noch geöffnet. Wie wird es sich anfühlen – seine Lippen auf meinen? Wie ein Geheimnis, das geteilt, ein Versprechen, das gehalten wurde? Wie diese eine Zeile des Gedichts –
Und ging hinaus im Schauer all meiner Tage
? Wird silbriger Regen rings um mich herum fallen, wo der Blitz in die Erde eingeschlagen hat?
Unterhalb von uns ertönt die Trillerpfeife, und der
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