Die Auswahl. Cassia und Ky
»Ich meine eine andere Art von Gesang, aus vollem Herzen, so laut man kann. Wann immer einem danach ist. Glaub mir, selbst die schönste Stimme der Welt würde nicht im Entferntesten so perfekt klingen wie die Stimmen in der Musikhalle.«
Für einen kurzen Augenblick stelle ich mir vor, wie er in der Landschaft steht, die er für mich gezeichnet hat, und anderen beim Singen zuhört. Ky sieht hoch zur Sonne, die durch die Bäume strahlt. Er schätzt die Zeit. Er vertraut der Sonne mehr als seiner Uhr. Das ist mir schon öfter aufgefallen. Als er so dasteht, eine Hand schützend über die Augen gelegt, kommt mir eine weitere Zeile aus dem Dylan-Thomas-Gedicht in den Sinn.
Wer jagt und preist der fliegenden Sonne Macht.
Ky greift in die Tasche und zieht mein Geburtstagsgedicht heraus. »Kannst du es schon auswendig?«
Ich weiß, was er sagen will. Es wird Zeit, das Gedicht zu zerstören. Es länger als nötig zu behalten, wäre zu gefährlich.
»Ja«, antworte ich. »Aber ich möchte es mir noch ein letztes Mal ansehen.« Ich lese es noch einmal und blicke wieder zu Ky auf. »Dieses Gedicht zu zerstören, finde ich nicht ganz so traurig«, sage ich, halb zu ihm, halb zu mir selbst. »Andere kennen es auch. Es existiert immer noch irgendwo.«
Er nickt.
»Möchtest du, dass ich es mit nach Hause nehme und verbrenne?«, frage ich.
»Ich dachte, wir könnten es hier im Waldboden vergraben«, erwidert er.
Das erinnert mich daran, wie ich mit Xander zusammen Rosen gepflanzt habe. Das Gedicht jedoch hat keine Wurzeln, sondern ist von seinem Ursprung glatt und sauber abgeschnitten. Wir kennen den Namen des Dichters, aber wir wissen nichts über ihn. Wir wissen nicht, welche Bedeutung er in das Gedicht legen wollte, was er dachte, als er die Zeilen komponierte oder wie er es geschrieben hat. Gab es vor so langer Zeit schon Schreibcomputer? Ich kann mich nicht daran erinnern, was wir in den Hundert Geschichtslektionen darüber gelernt haben. Oder hat er es wie Ky geschrieben, mit der Hand? Wusste der Dichter, wie glücklich er sich schätzen konnte, so schöne Worte hervorzubringen und einen Ort zu haben, an dem er sie aufschreiben und bewahren konnte?
Ky greift nach dem Gedicht.
»Warte«, bitte ich. »Lass uns nicht alles vergraben.«
Ich strecke meine Hand aus, und er reicht mir das Stück Papier, streicht es auf meiner Handfläche glatt. Es ist kein langes Gedicht, nur diese eine Strophe. Es lässt sich leicht vergraben. Vorsichtig reiße ich an den Zeilen entlang, die von den Vögeln handeln:
Mein Geburtstag fing an mit den Wasser-
Vögeln und Vögeln geflügelter Bäume
die flogen meinen Namen
Ich reiße das Papier kleiner und kleiner, bis nur noch winzige, federleichte Fetzen übrig bleiben. Dann werfe ich sie in den Wind, lasse sie für einen Augenblick fliegen. Sie sind so klein, dass ich die meisten beim Niederschweben aus den Augen verliere. Nur einer landet sanft auf einem Zweig in meiner Nähe. Vielleicht wird ein echter Vogel ihn zum Nestbau verwenden und ihn so vor allen anderen verbergen, wie ich es mit meinem Thomas-Gedicht getan habe.
Als Ky und ich das restliche Stück vergraben, denke ich bei mir, dass wir doch etwas über den Dichter wissen. Wir kennen ihn durch seine Worte.
Eines Tages werde ich diese Gedichte mit jemandem teilen wollen. Das weiß ich. Und ich werde eines Tages Xander erzählen müssen, was hier auf dem Hügel geschieht.
Aber so weit sind wir noch nicht. Ich habe Poesie verbrannt, um mich und andere zu schützen. Jetzt kann ich es nicht. Ich klammere mich an diese Poesie unserer gemeinsamen Momente. Ich schütze sie, ich schütze uns. Uns alle.
»Erzähl mir von deinem Paarungsbankett«, bittet mich Ky ein anderes Mal.
Will er, dass ich ihm von Xander erzähle?
»Nicht von Xander«, sagt er. Er hat meine Gedanken erraten und lächelt sein Lächeln, das ich so liebe. Sogar jetzt, wo er öfter lächelt, bin ich ganz gierig danach. Manchmal strecke ich dann die Hand aus und berühre seine Lippen. So auch jetzt, und ich spüre, wie sie sich bewegen, als er sagt: »Erzähl mir von dir.«
»Ich war nervös und aufgeregt …« Ich halte inne.
»Woran hast du gedacht?«
Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, ich hätte an ihn gedacht, aber ich habe schon einmal gelogen und will es nicht noch einmal tun. Aber an Xander habe ich auch nicht gedacht.
»Ich habe über Engel nachgedacht«, antworte ich.
»Über Engel?«
»Ja, du weißt schon, die aus den alten Geschichten.
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