Die Auswahl. Cassia und Ky
Augenblick ist vorbei. Wir haben nichts getan, man kann uns nichts anhaben.
Noch nicht.
KAPITEL 26
W ir laufen den Hügel hinunter. Ab und zu sehe ich etwas Weißes zwischen den Bäumen aufblitzen, und mir ist klar, dass es nicht die Vögel von eben sind. Diese weißen Gestalten haben keine Flügel. »Funktionäre«, bemerke ich, und Ky nickt.
Wir melden uns bei dem Offizier. Er scheint ein wenig beunruhigt über die Besucher zu sein, die auf uns warten. Wieder einmal frage ich mich, warum man ihn für diesen Einsatz abkommandiert hat. Die Markierung eines Hügels zu überwachen, selbst wenn es der bedeutendste von allen ist, erscheint mir für einen Offizier seines Ranges eine ziemliche Zeitverschwendung zu sein. Als ich mich abwende, sehe ich die vielen Falten, die die Disziplin in sein Gesicht gegraben hat, und stelle erneut fest, dass er nicht mehr jung ist.
Die Funktionäre, die mich erwarten, kenne ich bereits – es sind jene, die meine Sortierfähigkeiten getestet haben. Diesmal hat die blonde Funktionärin das Kommando; offensichtlich fällt dieser Teil des Tests in ihren Aufgabenbereich. »Hallo, Cassia«, begrüßt sie mich. »Wir sind hier, weil wir Sie zum praktischen Teil Ihrer Sortierprüfung begleiten wollen. Können Sie jetzt mit uns kommen?« Dabei wirft sie dem Offizier einen Blick zu, in dem man eine gewisse Hochachtung erkennen kann.
»Gehen Sie ruhig«, sagt der Offizier und sieht nach den anderen, die inzwischen vom Hügel zurückgekehrt sind. »Sie können jetzt alle gehen. Morgen treffen wir uns um dieselbe Zeit am selben Ort.«
Einige der anderen Wanderer schauen neugierig, aber unbesorgt zu mir hinüber. Auf viele von uns wartet die endgültige Arbeitsstelle, und Funktionäre scheinen bei diesem Prozess immer irgendeine Rolle zu spielen.
»Wir nehmen den Airtrain«, erklärt die blonde Funktionärin. »Der Test wird nur wenige Stunden in Anspruch nehmen. Zum Abendessen dürften Sie wieder zu Hause sein.«
Wir gehen zur Airtrain-Haltestelle, zwei Funktionäre zu meiner Rechten, einer zu meiner Linken. Es gibt kein Entkommen, und ich wage es nicht, noch einen Blick zurück zu Ky zu werfen, nicht einmal, als wir in den Zug steigen, mit dem auch er in Richtung Stadt fährt. Als er an mir vorbeigeht, klingt sein »Hallo« absolut unverfänglich: freundlich und desinteressiert. Er geht den ganzen Wagen entlang bis zum Ende und setzt sich auf einen Fensterplatz. Jeder Beobachter würde schwören, dass er nicht das Geringste für mich empfindet. Fast hätte er sogar mich überzeugt.
Wir steigen weder an der Stadthalle noch irgendwo sonst in der Innenstadt aus, sondern fahren immer weiter. Der Zug füllt sich mit blaugekleideten, lachenden und plaudernden Arbeitern. Einer von ihnen klopft Ky auf die Schulter, und Ky lacht. Ich entdecke keine anderen Funktionäre oder Passagiere in Schüler-Zivil, wie ich es trage. Zu viert sitzen wir in einem Meer von Blau, während der Zug sich biegt und windet wie ein Fluss. Ich weiß, wie schwer es ist, gegen eine so starke Strömung wie die der Gesellschaft anzuschwimmen.
Ich blicke aus dem Fenster und hoffe aus tiefstem Herzen, dass sich meine Befürchtung nicht bewahrheitet. Dass wir nicht dasselbe Ziel haben wie Ky. Dass ich nicht Ky sortieren muss.
Ist das eine Falle? Werden wir beobachtet?
Dumme Frage
, denke ich.
Natürlich werden wir beobachtet.
In diesem Teil der Stadt ragen dichtgedrängt gewaltige graue Gebäude in den Himmel. Ich sehe Schilder, aber der Zug fährt zu schnell, um sie lesen zu können. Aber es besteht kein Zweifel daran, wo wir sind: im Industriegebiet.
Vorne im Zug steht Ky auf. Er braucht nicht nach den Schlaufen zu greifen, die von der Decke hängen, sondern hält von selbst die Balance, als der Zug abbremst und stehen bleibt. Für einen Moment hoffe ich, dass alles gutgeht. Die Funktionäre und ich werden weiterfahren, an diesen grauen Gebäuden vorbei, vorüber am Flughafen mit seinen Landebahnen und den leuchtenden Signalfahnen, die wie die roten Bänder auf dem Hügel im Wind flattern. Wir werden hinaus aufs Land fahren, wo sie mich nichts Bedeutenderes als Feldfrüchte oder Schafe sortieren lassen werden.
Doch dann stehen die Funktionäre neben mir auf, und ich habe keine andere Wahl, als ihnen zu folgen.
Keine Panik
, rede ich mir ein.
Sieh dir die vielen Gebäude an. Die vielen Arbeiter. Du könntest hier alles Mögliche sortieren. Keine vorschnellen Schlüsse ziehen.
Ky dreht sich nicht nach mir um. Ich
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